Tag 19-21

Jeden Morgen um 4h stehen Leute auf und putzen die Welt, bevor der Rest von uns aufwacht. Das denke ich, während ich um 5 Uhr morgens an den schönsten Hotels vorbeigehe, in deren Zimmern ich Putzkräfte sehe. Auf der Straße kommen sie mir mit müden Gesichtern entgegen, auf dem Weg zur Arbeit oder ich laufe an ihnen vorbei, während sie an der Haltestelle rauchen und munter quatschen.
Vor Sonnenaufgang ist wieder alles so surreal. Ich habe gerade einen kleinen Hund vorbei huschen sehen, er hatte eine ganz ulkige Form: dünne Beine, einen kleinen Kopf und zottelige Ohren. Ich habe mir vorgestellt, er wäre ein Fabelwesen.
Der Morgen verläuft ganz entspannt. Zu entspannt. “Wenn nichts passiert, haben wir auch nicht so viel zu tun”, sagt meine Partnerin. Es war dieselbe junge Volontärin, die ich am Anfang meiner Zeit hier in der Mittagshitze liegen sah. Ich hatte damals versucht sie zu wecken, weil ich Sorge hatte, dass sie verbrennt, aber als jemand, die in Catar und Nigeria aufgewachsen ist, stört sie die Hitze nicht. Im Gegenteil. Die frühe Stunde stört sie anscheinend auch nicht, sie läuft aufgeweckt voran.

"Ja, aber wenn nichts passiert, ist es auch ein bisschen langweilig”, sage ich, “Es wäre schön, wenn am Ende nochmal so ein paar Babyschildkröten auftauchen würden, die aber schon fast im Meer sind und kaum Hilfe brauchen. Die einfach da sind und wir können ihnen dann zugucken.” Und eine Stunde später passiert mehr oder weniger das. Ein Strandbesucher spricht uns auf gebrochenem Englisch an: “Da hinten sind Schildkröten. Kleine. Laufen alle noch.” Wir sehen in 100 Meter Entfernung eine kleine Toursit:innengruppe an der Uferkante, wo der Mann hingezeigt hat. Wir rennen alle hin, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Ich fühle mich, wie in einem Kinderfilm. Bibi Blocksberg und die Schildkrötenretter. Die Touristen sind super informiert, sie wussten genau was zu tun ist: Schatten machen, nicht anfassen, nicht mit Wasser bespritzen und ihnen den Weg zeigen (eine hat die Schildkröte mit Flip Flops davon abgehalten in die falsche Richtung zu laufen). Acht haben es schon geschafft, zwei sind noch da, die noch vor dem Meer zu kapitulieren schienen. Ich klopfe zur Motivation. Ich ebne den Sand, räume alle Stöcke aus dem Weg. Ein Lied kommt mir in den Kopf. “You want to go to the sea side?” von den Kooks. Aber sie ist zu schwach. Ich erkläre den Leuten, dass wir sie wieder einbuddeln werden, wie und vor allem warum.

“Wie schade, sie sind schon so nah”
"Ja, aber selbst wenn sie es in diesem Zustand ins Wasser schaffen, dann ertrinken sie dort.” Sie zeigen sich verständnisvoll.
Obwohl also insgesamt nicht viel los war, konnte ich heute die Ergebnisse unserer Arbeit sehen: Die informierten Touristen, dann eine Spur, die direkt am Bambus-Zaun entlang führte. Weitere Spuren von Babyschildkröten, die erst in die falsche Richtung und dann am Zaun entlang ins Wasser führen.
Am Ende unseres Abschnitts kommen wir an einem merkwürdigen Minigolfplatz vorbei. Ich habe ihn schon oft gesehen, aber nie so bewusst wahrgenommen.
Die Anlage ist sehr sauber und aufgeräumt, mit saftigem Grün, aber auf der Rückseite verbirgt sich ein unsäglich hässlicher Hinterhof voller Schrott. Mitten im Schrott steht ein Pick Up Truck mit vier bellenden Hunden. Zwei Hühner, die wohl irgendwie dazu gehören, klettern vor unseren Füßen auf einen Lehmhaufen und darunter eine Katze, die gerade versucht, einen Vogel aus der Luft zu schnappen. Und dann eine Ziege mitten auf dem Weg. Angebunden, aber der Strick führt bei genauerer Betrachtung ins Leere. Am Meisten irritiert mich der saubere Minigolfplatz, auf dem nie jemand spielt.

Zurück im Camp. Im Wohnzimmer. Der ideale Ort um Kiffer Gespräche mit Nicht-Kiffern zu führen. Oder um einfach mal über unliebsame Schichten zu sprechen.
“Gestern war so anstrengend.”
“Was war los?”
“Wir sollten die Bambus-Begrenzungen um die Nester herum bauen, aber als wir ankamen haben wir festgestellt, dass wir nicht genug Material haben also sind wir zurück und haben alles repariert, was da war, um dann wieder zurück an den Strand und die Umzäunungen fertig zu bauen. Mich nerven diese Dinger sowieso!”
“Sie sind halt sehr effektiv.”
“Aber es ist immer wieder ein Problem, dass wir nicht genug davon haben. Die Strandmatten, aus denen wir diese Zäune bauen, sind manchmal nicht so leicht zu bekommen.”
“Warum benutzen wir überhaupt Strandmatten, da ist doch Plastik drin?”
Allgemeines Schulterzucken. Wir waren zu fünft im Wohnzimmer, dann kam ein sechster dazu.
“Weißt du warum die Strandmatten benutzen, um die Zäune zu bauen?”
“Ja ich weiß es. Die Idee ist aus den 90ern, als viele Leute diese Strandmatten benutzt und dann nach ihrem Urlaub einfach gespendet haben. Meine Mutter hat sich das damals ausgedacht.”
“Echt? Deine Mutter?”
“Ja. Die war vor 35 Jahren Volontärin hier.”
Respektvolles Schweiegen.
“Davor haben sie einfach Sandmauern um die Nester gebaut, aber das ist zu schnell vom Regen oder sonst wie zerstört worden, dann mussten sie das jeden Tag aufs neue machen. Da hat sich meine Mutter das mit den Strandmatten ausgedacht.”
“Die Grundidee ist ja auch voll cool, vielleicht braucht man nur ein anderes Material.”
“Was hält und nachhaltig ist.”
“Ja, es gab schon letztes Jahr den großen Aufruf, nach einer besseren Idee, bisher gibt es keine.”
Und so entspinnt sich plötzlich ein Brainstorming. Ein Gespräch bei dem es im Nachhinein nicht mehr möglich zu sagen, wer von uns welche Idee hatte.
“Wie wär's mit Holz?”
“Ist halt schwer.”
“Sehr dünnes, leichtes Holz.”
“Da ist immer noch das Problem, dass es nicht so flexibel in der Länge ist. Man kann die Zäune halt nicht normieren, die Größe muss immer nach Bedarf sein.”
“Aber in verschiedenen Größen?”
“Okay, das klingt verrückt aber wie wärs mit Steinen? Also wirklich eine kleine Mauer bauen?”
“Ist halt wirklich schwer zu transportieren und auch ganz schön teuer.”
“Aber wenn es dann länger hält?”
“Selbst wenn wir das als einmalige Investition tätigen könnten: Wenn das Material zu wertvoll ist, wird es halt vom Strand weg geklaut, es muss irgendwas sein, das für andere keinen Nutzen hat.”
“Kann man die Strandmatte einfach durch Stoff ersetzen?”
“Was für Stoff und wo bekommen wir den her?”
“Und wer näht den?”
“Es gibt doch so viel ungewollte Kleidung auf der Welt.”
“Aber wenn wir das jetzt schon ändern, wäre es doch gut, gleich ein System zu haben, was wir nicht in den Sand hinein buddeln müssten, wir wollen ja eigentlich so wenig Irritation und Vibration wie möglich erzeugen.”
“Deswegen sag ich ja die Ziegelmauer.”
“Zu schwer, zu teuer, wird geklaut.”
“Naja Ziegel sind im Prinzip nur Sand mit Kleber.”
“Sand gibt es ja genug am Strand.”
“Wenn wir Ziegel aus dem Sand machen der da ist?”
“Im Prinzip, Sandsäcke bauen.”
“Ja…Oder Sandsäcke kaufen.”
“Stimmt.”
Schweigen.
“Halten die Sandsäcke denn?”
“Naja man benutzt Sandsäcke ja um sich vor Überflutung zu schützen, die sollten stabil sein.”
“Aber dann muss man ja ewig am Strand die Sandsäcke befüllen.”
“Aber man spart sich die Zeit, in der man sonst im Camp diese Bambus-Zäune baut und repariert.”
“Mir macht das eigentlich Spaß.”
“Kannst du ja auch in deiner Freizeit weitermachen."
“Was kosten denn so Sandsäcke?”
“1,38€ für 1 Meter”
“Wieviele bräuchte man für ein Nest?”
“Müssten wir mal ausrechnen.”
“Und auch wieviel wir jetzt ausgeben.”
“Sind die auch aus Plastik?
“Die günstigen schon.”
“Aber die wären wenigstens wiederverwendbar.”
“Es gibt die bestimmt auch aus Nachhaltigerem Material.”
“Sind halt viel teurer.”
“Aber wir könnten die Fragen, ob sie uns sponsoren.”
"Okay, das ist dann vielleicht der nächste Schritt.”
“Stimmt.”
“Wäre schon gut, das erstmal auszuprobieren."
“Am Strand meinst du?”
“Ja. ich würde das am liebsten sofort machen!”
“Ich auch!”
“Aber ich hab jetzt gleich was anderes.”
“Ich auch.”
“Und was machen wir jetzt?”
"Naja, wollen wir die Idee mal pitchen?”
“Meint ihr nicht, dass da schon mal jemand drauf gekommen ist?”
“Vielleicht fragen wir das mal zuerst ab.”
Und damit gehen wir alle erstmal getrennte Wege und nehmen die Ideen mit ins Bett.




︎︎︎


Heute Morgen bin ich aufgewacht und habe festgestellt, dass meine Luftmatratze kaputt ist. Ich habe gestern Nacht beim drauflegen schon gemerkt, dass es ein kleines Rauschen gab, dass sich ein bisschen so anhört, wie wenn Luft aus ihr entweicht. Ich habe dann nochmal die beiden Verschlüsse richtig zugedrückt und gehofft, dass es daran lag. Heute wache ich auf einer leeren Luftmatratze beziehungsweise auf dem Boden auf und muss feststellen, dass sie kaputt ist. Ich habe außerdem ein paar Insektenstiche abbekommen, die nicht so richtig verheilen, und gestern habe ich mir auch noch einen Sonnenbrand zugezogen. Und als ich eine Weinflasche öffnen wollte, schnitt ich mir dabei in den Daumen. Eine zugegeben nicht sehr große Verletzung, aber nervig. 
Die Luft ist seit gestern raus. Die Hotelschicht war unfassbar langweilig. Niemand hörte unserem Schildkrötenvortrag zu und das Hotelessen…
Ich wurde vorgewarnt. Ich hatte keine Erwartungen und wurde trotzdem enttäuscht. Hauptgang am Buffet waren Hackbällchen, im Salat waren Würstchen und zum Nachtisch gab es Wackelpudding. Ein großes Blech Wackelpudding. Alternativ gab es flüssigen Joghurt mit Dosen-Fruchtkompott. Ich glaube sie haben für die Salatbar Tomaten aus Deutschland importiert um den Urlauber:innen die gewohnte Geschmacklosigkeit zu bieten.
Ich fahre für einige Besorgungen in die Stadt. Es sind zehn Minuten mit dem Bus aber man weiß nie wann der Bus kommt, deswegen muss ich viel Zeit einplanen. Aber da ist dieser eine Mann. Ein Einheimischer, der immer an der Haltestelle auftaucht, zwei Minuten bevor der Bus kommt. Ich beobachte das schon einige Zeit. Egal ob der Bus pünktlich kommt oder zu spät, dieser eine Mann mit der ledrigen Haut und der grauen Kappe, der immer eine große Plastiktüte dabei hat, der taucht immer aus dem kleinen Trampelpfad auf, kurz bevor der Bus kommt. Vielleicht sieht er ihn von seinem Fenster aus.  Oder es gibt eine geheime Telegram-Gruppe mit den echten Buszeiten, die für Tourist:innen auf ewig verschlossen bleibt.

Tourismus ist eh eine komische Sache. Der Tourist zerstört das, was er sucht, in dem er es findet. (Hans Magnus Enzensberger) Tourist sein ist eigentlich toll und gleichzeitig hassen alle Touristen auch Touristen. Es ist wie, wenn man im Stau steht. Der Stau nervt und gleichzeitig ist man selber der Stau. Die vielen Menschen stören, weil ich selbst da sein will. Aber lieber alleine. Aber mit Öffis gut erreichbar und gerne mit einem netten Café vor Ort. Die Tierschutzorganisation hier auf Kreta hat sich zum Ziel gesetzt, mit den touristischen Einrichtungen vor Ort zu kooperieren, sodass der Tourismus und der Naturschutz koexistieren können. Damit der Strand ein Erholungsort für Menschen und ein Nistplatz für Schildkröten sein kann. Löblich und auch erfolgreich und vermutlich alternativlos. Und dann laufe ich an so einem Hotel vorbei und denke mir: Dafür? Wirklich? Und dann die vielen Schildkrötenspuren, die sich am Strand verlaufen und weit weg vom Meer vertrocknen und dann klingelt das Notfalltelefon bei uns im Camp und eine ausgewachsene Schildkröte ist gestrandet weil sie mit einem Motorboot zusammenstieß und an ihrer Kopfverletzung starb. Eine von Tausend schafft es bis ins Erwachsenenalter. Und stirbt wegen eines Motorboots. Dann denke ich mir: Können wir nicht einfach mehr Naturschutzgebiete haben? Brauchen wir denn diese ganzen Hotelanlagen, Pools und Resorts und dieses ganze Licht und Plastik?Wen entspannt das denn wirklich?


Ich habe abends noch eine Schicht mit einem höflichen Ingenieurwesen-Studenten aus Frankreich, mit Designer Brille, einer teuren Frisur und geraden Zähnen. Er ist hier um Englisch zu lernen. Wir warten auf den Bus und ich erzähle ihm von unserer Idee mit den Sandsäcken. Ich erkläre ihm alle Vor- und Nachteile. Und er findet, das ist eine ziemlich gute Idee. Zehn Minuten später geht er nochmal darauf ein: “Ich muss für die Uni ein Innovationsprojekt machen, wenn ich so eine Idee hätte…” sichtlich überlegt er, wie er den Satz beendet und lacht dann einfach: “Dann hätte ich eine gute Idee!” Das motiviert mich. Ich frage die Bilogielehrerin, die schon so lange dabei ist, ob da schon mal jemand drüber nachgedacht hat, sie sagt, nicht dass sie wüsste, ich solle es mal dem Camp Leiter vorschlagen. Er ist für alle Standorte auf Kreta zuständig und wechselt deswegen hin und her, heute ist er hier. Am Rand der Taverne sitzt er an seinem Laptop und arbeitet.
“Wir hatten eine Idee was die Umzäunung betrifft und ich wollte mit dir darüber reden.”
“Zwei Minuten, dann bin ich ganz Ohr.”
Zwei Minuten später reden wir, er hört aufmerksam zu. Der Nachteil ist, so ein Sandsack sieht weniger aus wie ein Zaun und hält die Tourist:innen nicht davon ab, sich dem Nest zu nähern. Für diesen Zweck könnte man aber auch einfach vier Bambusstöcke in den Sand stecken und ein Absperrband drum herum spannen. Oder man besorgt die Sandsäcke in Signalfarben, damit sie auffälliger sind. Wir rechnen ein bisschen. Was kostet der Meter Strandmatte jetzt, wieviel kosten die Sandsäcke? Wie lange könnten die Sandsäcke wiederverwendet werden. Eine weitere Campleiterin schaltet sich ein: “Selbst wenn es ein bisschen teurer wäre, würde man so viel Zeit sparen, in der die Volontäre sinnvolleren Tätigkeiten nachgehen könnten.” Die Idee ist erstmal gut. Für diese Saison wird das nichts mehr, aber man sollte darüber nachdenken, sagt er.
So schnell will ich das noch nicht abschließen und beschließe, in einem freien Moment einen Baumarkt aufzusuchen und einen Prototyp zu testen. Meine Wohnzimmer-Brainstorming Freunde sind begeistert.