Tag 22  und 23

An diesem freien Tag fahren wir zu dritt mit dem Auto nach Matala. Wir besuchen ein anderes Camp, eine andere Station der Tierschutzorganisation hier auf Kreta. Sie ist sehr viel kleiner, weniger Leute, weniger Tourismus und dadurch eine ganz andere Arbeit. Sie brauchen die Nester hier kaum zu umzäunen, weil es nicht so viel Lichtverschmutzung gibt. Sie sind knapp 10 Leute im Team statt 35 bis 40, wie wir. Das ist bestimmt eine ganz andere Gruppen-Dynamik. Man spürt auch sofort die familiäre Athmosphäre. Eigentlich sind 10 Leute aber auch zu wenig, sie suchen dringend neue Volontäre. Sie haben die Teilnahmegebühr für diesen Standort komplett abgeschafft, um mehr Leute zu aquirieren. Wenn sie nicht genug finden, müssen sie den Infostand in der Fußgängerzone schließen, weil sie alle Leute für die Frühschichten am Strand brauchen. Die Überprüfung der Nester hat immer oberste Priorität. Die Öffentlichkeitsarbeit kommt danach. Ich frage mich, wieso hier so viel weniger Leute sind als an meinem Standort. Ich z.B. habe mich ja gar nicht für eine bestimmten Standort gemeldet, sondern mich einfach irgendwo hin schicken lassen und muss sagen, ich bin sehr zufrieden. Das Camp in Matala ist nicht so groß und ich finde auch nicht so gemütlich wie unseres und die Stadt hat einen sehr speziellen Vibe. Matala, die ehemalige Hippie Stadt. Aber alles, was von den Hippies geblieben ist, sind ihre ehemaligen bewohnten Höhlen, die man jetzt gegen Eintrittsgeld besichtigen kann. Und ein paar Flower Power Souvenirshops. Als wir ankommen ist es schon ziemlich heiß und nach einem kurzen, freudigen Hallo und einem Snack in Der Bäckerei wissen wir nicht so richtig, wohin mit uns. Der Tag führt uns in einen Supermarkt, wo wir uns kalten Cider holen, mit dem wir uns dann auf eine Treppe vor den Parkplatz setzen. Ich öffne die Flaschen mit einem Feuerzeug und werde angesehen, als hätte ich Superkräfte. Es ist eigentlich kein besonders schöner Ort aber irgendwie fühlen wir uns gerade genau hier, mit unserem Supermarkt-Cider am Wohlsten. Danach legen wir uns einfach an den Strand und genießen die riesigen Wellen, die in die Bucht schwappen. 

Auf dem Rückweg, fahren wir mit dem Auto durch die Olivenhaine dem Sonnenuntergang entgegen. Wir führen bittersüße Gespräche. Ein Vogelschwarm zieht vorbei und Ben Mazué spricht seine Spoken Word Tracks durch die Lautsprecher unseres kleinen Mietwagens. Ich fühle mich wie in einem Film. Ein melancholischer, französischer Film, der auf Festivals läuft, aber keine Preise bekommt. Ein Film über uns drei, drei Menschen aus Berlin und Paris, die vor allem Raum und Zeit verbindet und dass wir (wie wir im Gespräch feststellen) viel zu früh eine wichtige Person im Leben verloren haben. Mutter, Vater, Schwester. Jetzt wechselt der Track zu französisch-deutscher Musik. Ich stelle mir vor,  dass dieser Film wohl von Arte gesponsert wurde und von mehreren Beteiligten das große Abschlussprojekt ihres Filmstudiums war. Die Straße führt uns durch wüstenartige Landschaften und durch kleine, verschlafene Dörfer. 

Bevor ich spät abends schlafen gehe, unterhalte ich mich im Wohnzimmer mit einem Studenten der Nachhaltigen Wirtschat aus Großbritannien über Kompensationsleistungen. Er hält die Idee, Naturschutz out zu sourcen grundsätzlich für Bullshit. Ein Versuch den Status Quo zu rechtfertigen und aufrecht zu erhalten. Der Markt wird den Klimawandel nicht aufhalten, er wird nur die Schuld auf arme Menschen schieben. Na dann, Gute Nacht. 

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Die Camp Katze (die männlich ist) hat jetzt ein kleines Halsband und war beim Tierarzt zur Impfung und ist damit ein offizielles Haustier. Zwei Volontäre haben sich angemeldet, den kleinen Kater zu adoptieren, ich weiß nicht, wer sich durchsetzen wird. Wir warten früh morgens auf unseren Fahrer, aber er ist krank und kann nicht fahren. Das bedeutet jetzt schon, der Tag wird stressig. Wir versuchen jemanden zu wecken, der oder die uns fahren kann und werden fündig. Trotzdem sind wir zu spät am Strand und es ist immer ein Wettlauf gegen die Zeit. Gegen die Hitze für uns und für die Schildkröten. Als ich vor ein paar Tagen die Schildkröte auf dem Rücken liegend gefunden habe, dachte ich mir: “Wie lange liegt sie da schon so?” Am Ende musste ich sie wieder eingraben, aber wenn jemand sie früher gefunden hätte, hätte sie es vielleicht geschafft.
Wir bereiten die Bücher für heute vor. Die, in denen wir unsere Notizen machen. Manchmal bezweifle ich die Wissenschaftlichkeit dieser Expeditionen, aber das liegt vor allem daran, dass ich selber keine Wissenschaftlerin bin und trotzdem dabei sein darf und Daten erheben. “Naja du kannst zählen oder? Das ist manchmal alles, was zum erheben von Daten notwendig ist.” 
Der Weg ist ziemlich steinig und die Wellen kommen sehr nah. Der Strand, an dem wir patrouillieren, ist kaum mehr vorhanden. Wahrscheinlich ist der Meeresspiegel so weit gestiegen, dass er den Sand verschluckt hat. Unseren Aufzeichnungen zufolge, ist das hier aber noch Strand, also überprüfen wir ihn. Mir macht das eigentlich Spaß, dieser etwas steinige Kletterweg. Die letzten Male war ich immer am anderen Ende des Strandes, der schon sehr nah an der Stadt ist, und dadurch sehr viel weniger idyllisch. Auf dieser Seite hier, gibt es keine großen Hotels. Kleinere schon, Ferienhäuser, vereinzelte Liegestühle. Und eine super lustige Influencerin, die ungefähr 50 Jahre alt ist, Blonde und Blaue Haare hat und in verschiedenen Kleidern, auf einem Plastikstuhl, im Meer, dramatisch posiert. Vielleicht ist sie keine Influencerin. Vielleicht macht sie sich den Aufwand mit dem Handy-Stativ und den verschiedenen Outfits nur für ihre Familie-Whatsapp-Gruppe, könnte ja sein.
Dadurch, dass hier weniger Lichtverschmutzung ist, sind die Spuren auch relativ einfach zu verfolgen. Die meisten führen einfach ins Meer. Meine Partnerin für heute, eine Biologiestudentin aus Athen, und ich sind zum ersten Mal zusammen bei einer Schicht. Ich fahre in sechs Tagen und sie fährt übermorgen. Wir sind fast gleichzeitig für einen Monat hier und haben uns schon häufiger gesehen und uns auch mal unterhalten, aber heute lernen wir uns erst richtig kennen. Sie sollte eigentlich schon weg sein, sie hat aber verlängert. Da ist sie nicht die einzige, viele verlängern. Ich verstehe auch warum. Es braucht ein bisschen, um hier in dieser Struktur anzukommen. Es braucht eine Woche, um sich alles notwendige Grundwissen anzueignen. Dann kann man es erst anwenden und nach einer weiteren Woche kann man es dann an Neuankömmlinge weitergeben. Man fühlt sich gebraucht und geschätzt. Es wird hier auch jede und jeder gebraucht. Und das ist ein schönes Gefühl. Weil ich am Anfang so überwältigt war von den vielen Informationen, habe ich eine Weile gebraucht, um mich auf die Leute hier einlassen zu können. Ich habe das Gefühl, das fängt erst so langsam an.
Wir machen eine kleine Pause auf einer Bank mit toller Aussicht auf den Strand. Sonne und Mond sind beide hoch und hell am Himmel.
Dann laufen wir weiter auf nassem Sand an roten Lehmwänden vorbei, während die Wellen den Strand fressen. Ein umgefallener Baum hängt abenteuerlich über mir, die Wurzeln halb in der Lehmwand, halb in der Luft und irgendwo zwischen den Wurzeln ein weißer Plastikstuhl. Ist da ein Stuhl im Baum oder ein Baum im Stuhl?
Irgendwann finden wir dann auch das nächste Nest und eine Ausgrabung steht auf dem Plan. Ich habe gesagt, dass ich bei Ausgrabungen mitmache, wenn es dringend gebraucht wird, dass ich aber nur schreiben und keine Eier öffnen will. Darauf wurde beim Wochenplan auch Rücksicht genommen. Die Griechische Biologiestudentin, zieht sich also Handschuhe an und fängt an, das Nest auszugraben. Dabei stößt sie direkt auf eine leblose, kleine Schildkröte. „Kein guter Start“ sagt sie und gräbt weiter. Im Sand über dem Nest sind Steine, die den geschlüpften Schildkröten den Weg nach oben versperrt haben. So stößt sie beim vorsichtigen Graben immer wieder auf tote Schildkröten. Unzählige. Nichts für schwache Nerven. Das Nest ist außerdem ungewöhnlich tief und der weiche Sand von oben rutscht immer wieder hinein. Ich versuche, mit dem Notizbuch einen Ort in Nestnähe zu finden, wo ich am besten dem Geruch ausweichen kann. Zu schwache Nerven. Mittlerweile haben wir Publikum: Ein kleines Mädchen und ihre Mutter sind von einem der Apartments raus an den Strand gekommen, um uns zuzusehen. Ich bin ja skeptisch ob der Anblick des Baby-Schildkröten-Friedhofs das beste Ferienprogramm für eine Fünfjährige ist. Andererseits: Es ist halt Natur. Sie wirkt einfach neugierig und stellt ihrer Mutter viele Fragen. Auch andere Erwachsene kommen zufällig vorbei, werfen einen Blick auf die Ausgrabung, machen vielleicht ein Foto und gehen weiter.
“Es geht nicht, der Sand rutscht immer wieder hinein, ich schaffe es nicht alleine”, sagt meine Kollegin. Ich hole mir ein paar Handschuhe aus dem Rucksack, versuche weder zu denken noch zu atmen und helfe ihr, das Nest auszugraben und die Eier zu sortieren.
“Sie lebt noch!” sagt sie plötzlich. Ganz unten, kurz vor dem Nest unter all den Steinen und restlichen Schildkröten, war ein Schlüpfling noch am Leben und hätte es niemals nach oben geschafft, hätten wir ihn nicht ausgebuddelt. Ich fülle den Eimer mit Sand und setze die Schildkröte hinein. Das kleine Mädchen, das vom Rand aus zusieht ist extrem aufgeregt. Sie rennt zurück ins Haus und ruft “Baby Turtle! Baby Turtle!” Sie bringt ihre ganze Familie mit nach draußen. Bald haben wir eine Menschentraube mit gezückten Smartphones um uns herum, die dabei zusehen, wie der kleine Schlüpfling tapfer durch den Sand krabbelt und schließlich im Meer verschwindet. Die Menschen applaudieren. “Herzlich Glückwunsch euch beiden, ihr habt heute ein Leben gerettet!”, sagt eine deutsche Urlauberin mit knallpinkem Sonnenvisier und breitem Grinsen, das Smartphone noch in der Hand. 
Lebende Schlüpflinge zu finden, ist nicht der eigentliche Grund für die Ausgrabungen, sondern die Erhebung von Daten. Trotzdem kommt es immer wieder vor und ich kann nicht leugnen, dass das ein tolles Gefühl ist. Ein bisschen magisch. Und das soll längst nicht alles sein, was ich an diesem Tag erleben werde.