Tag 23 bis 25

Immernoch Tag 23. Wir sitzen um 23 Uhr im Wohnzimmer, quatschen, lachen und trinken Schildkrötenwein. Dabei handelt es sich um einen Rotwein, den wir bei LIDL entdeckt haben, mit einer Schildkröte auf dem Etikett “Es ist immer ein gutes Qualitätsmerkmal, wenn ein Tier auf dem Eticket ist.” Das Notfall-Telefon klingelt. Bisher habe ich es immer verpast, wenn das passiert ist. „Wer will ein paar Schildkröten sehen?“, ruft der Teamleiter durchs Camp. Ich weiß noch nicht worum es geht, aber mehrere Leute sagen meinen Namen. „Lisa sagt doch immer, sie sieht viel zu wenig Schildkröten.“
Ich weiß nicht so genau, ob ich dabei sein will. Ich bin ganz schön müde und habe mir gerade ein Glas Rotwein eingeschenkt. Außerdem ist es hier gerade so gemütlich. Aber dann gebe ich mir einen Ruck. Du bist doch nicht für den Rotwein hier! Oder für die gute Gesellschaft! Bis es dazu kommt, dass wir außerplanmäßig ausschwärmen, muss schon was größeres passiert sein. Das will ich mir doch nicht entgehen lassen. Zum ersten Mal in dieser Zeit schnappe ich mir also meine Stirnlampe, mit Rotlichtfunktion, die ich mir extra für diese Zeit gekauft habe. Anders als weißes Licht, irritiert rotes Licht die Schildkröten nicht, deswegen benutzen wir es für Nachtschichten. Bei diesem Projekt gibt es im August allerdings keine eigentlichen Nachtschichten. Im Gegenteil, nachts sollen wir den Strand meiden. Es gibt Standorte, an denen nachts die Mutter-Schildkröten mit einem GPS Trecker ausgestattet werden, aber hier nicht. Hier gehen wir nur notfalls an den Strand. Wie jetzt, ein Schildkrötennotfall. Wir sind zu viert im Auto, auf dem Weg in den Strandabschnitt nahe der Stadt. Es ist Freitagabend und einiges los. Kurz fragen wir uns, wo genau der Notfall ist, erkennen aber schnell die riesige Menschentraube, die sich um eine Nest Umzäunung herum versammelt hat. Innerhalb dieser Umzäunung laufen Babyschildkröten, die wohl gerade geschlüpft sind, in alle möglichen Richtungen, nur nicht in Richtung Meer. Die Strandpromenade ist hell erleuchtet, vor allem ein riesiges Hotel. Dazu kommt, dass einige neu dazu gestoßene Besucher:innen ihre Handys zücken, um alles mit Blitzlicht zu fotografieren. Die Schildkröten drohen zu erblinden. Es gilt also folgendes zu tun: 1. alle umstehenden Touristen zu informieren und einzuweisen. Keine Blitzlichtfotografie, Vorsicht, wo sie hin treten, im besten Fall den Strand gar nicht betreten. Dann graben wir einen Sandtunnel und setzen die Schildkrötenbabys nach und nach hinein, damit sie ihren Weg zu mir finden. Sie sind alle stark genug, sie sind schon so viel gelaufen. Die Schildkröten bei Nacht zu sehen ist etwas ganz anderes als morgens bei der Straßenpatrouille. Morgens sind die Schildkröten müde, schwach, ausgelaugt. Diese hier, die wirklich frisch geschlüpft sind (und ich sehe sie auch noch weiter schlüpfen, wie sie ihre kleinen Kopf aus dem Sand hervorstrecken) sind sehr aktiv und kräftig. Doch leider total verwirrt. Selbst kurz vor der Wasserkante laufen sie zurück, ins künstliche Licht. Immer mehr Leute kommen, um sich das Spektakel anzusehen, es ist mühsam. Nach einigen Bemühungen müssen wir einsehen, dass das so nichts wird. Eine Handvoll der Schildkrötenmasse hat es ins Wasser geschafft, die anderen rennen (ja gut, es sind immer noch Schildkröten, aber sie sind echt erstaunlich flink) orientierungslos umher. Wir müssen sie einpacken und an einem Ort aussetzen, an dem weniger Licht ist, damit sie eine Chance haben. Wir erklären alles den Tourist:innen und lösen die Situation auf. In kleiner Gruppe bringen wir den Eimer voller Schlüpflinge an eine ruhigere, dunklerere Stelle und setzen sie dort aus. Sie wirken immer noch etwas verwirrt, aber finden alle ins Wasser. Aber auch das ist kein Selbstläufer. Die Wellen sind stark und brechen schäumend am Ufer, für die Kleinen ist es gar nicht so einfach, dem standzuhalten. Was ich für so eine Situation gelernt aber bis dahin noch nicht selbst gemacht habe, ist folgendes: Wenn die Welle kommt, halte ich meine Hand wie einen schützenden Käfig über die Schildkröte, damit sie von ihr zurück auf den Strand geschleudert wird und wenn die Welle zurückgeht, lasse ich im richtigen Moment los, damit die Schildkröte von der Welle mitgerissen wird. Das braucht ein bisschen Übung, aber nach ein, zwei Wellen hab ich den Rhythmus raus. Nach dieser Aktion bin ich voller Adrenalin und grinse übers ganze Gesicht.


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Im Camp herrscht teilweise große Aufregung. Der Grund dafür ist die Grüne Meeresschildkröte. Auf der ganzen Welt gibt es insgesamt sieben Arten von Meeresschildkröten, drei davon leben im Mittelmeer: Die Caretta Caretta, das ist die Schildkröte, die hier in Griechenland vorkommt und um die es in meinem Blog die ganze Zeit geht. Sie kann circa einen Meter groß werden und wiegt bis zu 70 Kilo. Die zweite Art ist die Lederschildkröte, die ziemlich abgefahren aussieht: Sie hat keinen Panzer, wie andere Schildkröten, sondern eine dicke Lederhaut auf dem Rücken, sie kann sogar bis zu zwei Meter groß werden. Ich treffe hier nur auf wenige Leute, die schon mal eine gesehen haben. Und die dritte ist die Grüne Meeresschidlkröte, die vor allem durch ihren Auftritt in “Findet Nemo” eine große Fanbase und Bekanntheit gewonnen hat. Sie ist in Größe und Gewicht ähnlich zur Caretta Caretta aber sie ist viel bunter, die Schlüpflinge sind etwas größer und stärker und auch ihr Gang unterscheidet sich. Im Süden Kretas wurde vor ein paar Tagen ein einziges Nest, als das einer Grünen Meeresschildkröte identifiziert. So etwas wurde in ganz Griechenland bisher extrem selten beobachtet. Jetzt soll eine Öffentliche Ausgrabung dieses Nests stattfinden und das trennt das Camp in die Vorfreudigen, die hinfahren, die Enttäuschten, die nicht mitfahren können und die, die das ganze Schulterzuckend an sich vorbeiziehen lassen. Vor allem eine Volontärin scheint ziemlich bedrückt, sie trägt ein Tattoo einer Grünen Meeresschildkröte auf ihrem Oberschenkel, aber findet niemanden, der ihr die Schicht abnehmen kann, um mit zu fahren. Ich kann ihr nur anbieten, unsere Schichten zu tauschen, aber das hilft ihr leider nicht.


Später treffe ich am Infostand auf eine griechische Teilzeit-Volontärin. Sie wohnt hier in der Stadt und hilft manchmal aus. “Es ist einfach schade, dass sich das Land so wenig um die Natur kümmert. Hach du müsstest mal im November hier sein, wenn alles ruhig ist und das Wasser so wirklich klar. Nicht so wie jetzt.” Ich stelle fest, dass ich kaum Kontakt zu Griech:innen hier hatte. Sie erzählt mir schnell, das Schildkröten ihre Lieblingstiere sind. Ihre Familie hat fünfzehn Landschildkröten, die älteste ist 116 Jahre alt und stammt aus der Zeit, als ihre Großmutter ein kleines Mädchen war. Die Schildkröte hat die Großmutter aber derweil überlebt. Tino kommt am Infostand vorbei und wir verabreden uns, später in der Taverne.

Heute Abend gibt es dort wieder einen Vortrag unserer Organisation. Obwohl ich die Inhalte auswendig kenne, will ich unterstützend dabei sein. Das ganze endet in der Idee, ein Trinkspiel draus zu machen: Jedes Mal, wenn jemand Strand sagt werden wir trinken. Die junge Griechen sagt “Hey, ich habe noch einen Wein zu Hause, den ich geschenkt bekommen habe, und nicht trinke, wollt ihr ihn haben?” Also komme ich nach der Arbeit vorbei und hole mir den Wein ab. Er ist von ihrem Onkel, ihre Familie stellt Wein und Olivenöl her. Ja, das klingt wie ein Klischee, aber so war es nun mal. Ihr Apartment ist sehr klein, dafür lebt sie alleine und zahlt auch nicht so viel Miete. Knapp 300 Euro im Monat. „Aber ich würde gerne etwas Schöneres finden, ein bisschen größer vielleicht, auf jeden Fall ein bisschen heller. Aber die Wohnungssituation hier ist eine Katastrophe, ich hatte Glück.“ Ich frage, woher die Wohnungsknappheit kommt und sie zeigt demonstrativ auf jedes Gebäude um uns herum: „Es gibt nur Hotels, AirBnB und Ferienhäuser. Kreta lebt von Tourismus, aber für Leute, die hier wirklich leben und arbeiten, gibt es keine Wohnungen. Wir haben Ärztemangel, weil sie hier keine Wohnung finden.“

Es erinnert mich an ein Gespräch, das ich erst heute beim Frühstück hatte, über die Wohnungssituation in London. Für ein kleines Zimmer in einer WG zahlt man dort über 1000 Pfund im Monat. Und es ist nicht mit den WGs, wie ich sie aus Berlin kenne, zu vergleichen, bei denen sich drei oder vier Freundinnen zusammentun, um sich eine Wohnung zu leisten. In London gibt es große, teure ehemalige Familienhäuser mit sechs Zimmern, und die Vermieter vermieten dann jedes dieser sechs Zimmer, separat an sechs unterschiedliche Leute, die sich dann aber eine Küche und ein Badezimmer teilen. Mein Gesprächspartner beim Frühstück -ein Londoner Student- erzählte mir, dass er sich das nur leisten kann, indem er während des Semesters zur Zwischenmiete wohnt und dann während der Semesterferien zu seinen Eltern zieht. Er geht also jedes Semester neu auf Wohnungssuche. London ist generell teuer, sagt er, alle Leute die dort wohnen sind reich oder am hustlen und es gibt kein Interesse daran, den Wohnungsmarkt irgendwie zu regulieren, mit Mietendeckel oder so, weil es kein Interesse daran gibt, die Stadt attraktiv für Nicht-Reiche zu machen. London ist eine Stadt für Bänker und Erben und das war schon immer so. Ich treffe auch ihn später in der Taverne, weil er heute den Vortrag hält. Die Idee mit dem Trinkspiel findet er sehr gut und ich meine, dass er da hin und wieder mit unterdrücktem Schmunzeln unnötig oft das Wort “Strand” eingebaut hat.

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Und alle haben mir gesagt, die Zeit würde verfliegen und ich habe nicht daran geglaubt. Ich habe noch vier Tage und spüre jetzt, dass es langsam vorbei geht und dabei hat es erst so richtig angefangen. Trotzdem freu ich mich auf Berlin. Auf meine Wohnung, meine Dusche, mein Bett und meine Freund:innen. Auf Kumpir-Essen an der lauten Kreuzung im Wedding, auf Ausflüge nach Brandenburg, auf Bühnen, Backstage, Bahnfahren. Ja sogar auf Bahnfahren. In meinen letzten Tagen drehe ich noch mal so richtig auf und bin gleichzeitig wahnsinnig müde. Ich werde spontaner. Jede Schicht und jede Aufgabe ist eine “Oh das ist jetzt das letzte Mal, dass ich das hier mache.”-Schicht. Kurz vor der Abreise habe ich noch mal einen freien Tag, miete mir ein Fahrrad und fahre ans andere Ende des Strandes, dort wo es ein bisschen idyllischer ist. Ich hatte gehofft, dass ich dazu noch Gelegenheit haben würde. Jedes Mal, wenn ich morgens an diesem Teil des Strandes war, um die Nester zu überprüfen und ich vorbei schlenderte an den den Buchten und halben Höhlen und den Schattenplätzen zwischen den knochigen Bäumen, wünschte ich mir, hier einfach mein Handtuch auszubreiten und zu lesen. Und genau das mach ich heute: Lesen, Schlafen, Kartenspielen mit Tino und ab und zu ins Wasser springen für eine Abkühlung. Ein Monat Mittelmeer.  Abends sitze ich mit ein paar anderen zum Sonnenunetrgang am Strand und wir trinke Schildkrötenwein.

Einen Tag später bin ich wieder am selben Strandabschnitt, um noch ein letztes Mal die Nester zu überprüfen. Es liegt Abschied in der Luft, nicht nur meiner. Der Sommer geht langsam zu Ende, die Sonne geht später auf, es ist weniger heiß. Mehr und mehr Besucher:innen verabschieden sich nach Hause, mehr und mehr Schildkröten verabschieden sich ins Meer. Alle Nester sind gelegt, die erwachsenen Schildkröten werden dieses Jahr nicht mehr an den Strand zurückkehren.  Mein Partner für heute ist eher still. Obwohl wir beide Deutsch sprechen könnte, sprechen wir so gut wie gar nicht. Das ist auch nicht wirklich nötig, wir wissen beide was zu tun ist. Die Absprachen sind pragmatisch und die Schicht verläuft ruhig. Ich erinnere mich, als ich vor vier Wochen hier war und mir alles erklärt werden musste. Wie die Spuren aussehen, wie was zu notieren ist, wenn wir sie sehen. Welche Bücher, welche Kürzel, wo ich welche Markierungen finde, das System hinter diesen Beobachtungen. Wir laufen vorbei an dem Ort, an dem ich zum ersten Mal eine Schildkröte hochgehoben habe, aber das Nest ist schon fertig geschlüpft. Ich laufe vorbei an der Bar, bei der ich nach einer Ausgrabung mal einen Gratis Cappuccino und Wasser bekommen habe. Weil wir aber heute viel schneller durchgekommen sind, ist die Bar erst halb geöffnet.  Es ist, als würde ich alles im Schnelldurchlauf nochmal erleben. Wie bei meiner ersten Schicht vor vier Wochen, ist es heute auch wieder so, dass das andere Team Hilfe braucht und wir unterstützen. Und am Ende dieser Morgenschicht, stehen wir auf demselben Parkplatz wie vor vier Wochen. Es hat sich nichts verändert, aber es fühlt sich doch alles ganz anders an. Es ist nicht mehr so heiß und ich kenne mittlerweile die Leute, mit denen ich hier stehe. Sie waren alle vor vier Wochen auch schon da und einige werden auch bis zum Ende der Saison bleiben.


Schildkröten bei Nacht im Rotlicht. Rechts eine Hand im Handschuh, davor ein Schildkrötenbaby. 





Ein Eimer voller Schlüpflinge, die eingesammelt werden mussten. Rotlicht blendet die Schildkröten nicht.