Tag 26 bis 29
An meinem letzten Tag bin ich hin und hergerissen zwischen übermüdet, melancholisch und aufgeregt. Am letzten Abend halte ich nochmal einen Vortrag in einem sehr luxuriösen Hotel auf Kreta. Die Managerin des Hotels fragt mich, ob ich den Vortrag zufällig auch bilingual auf Deutsch und Englisch halten kann. Da freue ich mich doch, endlich mal mein komplettes Skillset auspacken zu können! Vorher werden ich und mein Kollege noch vom Hotel zum Abendessen eingeladen. Wir sollen uns einfach am Buffet bedienen. Das Essen ist sehr, sehr gut. Leider kaum vegetarisch, aber allein die Salatbar die einen ganzen Raum einnimmt, überzeugt. Mein Highlight ist allerdings der kleine Dessertwagen voller Tiramisu, Baklava, Törtchen, Kuchen und Crème brûlée. Diese Abendessen sind immer ein willkommene Abwechslung zum Camp-Essen, welches von wechselnder und teilweise zweifelhafter Qualität ist. Wobei ich sagen muss, seitdem ein Volontär aufgetaucht ist, dessen Nebenjob tatsächlich Kochen ist, hat es sich rasant verbessert. Er sitzt mir auch jetzt im Hotel gegenüber, wir haben uns über die letzten Wochen ganz gut angefreundet. Glaube ich zumindest.
Der Vortrag macht Spaß, ich bin ganz in meinem Element. Ich kann jetzt nach vier Wochen noch ein letztes Mal das ganze Nieschenwissen auspacken, dass ich mir angeeignet habe. Mein Publikum besteht sowohl aus Erwachsenen als auch aus Kindern. „Wer von euch weiß, aus was Schildkrötenpanzer sind?“ (Diese Frage habe ich mir bei einer Strandführung von unser Base Camp Leiterin abgeguckt, sie ist wohl der größte Schildkröten-Nerd der mir hier begegnet ist.) „Schildkrötenpanzer sind aus Keratin, daraus sind auch unsere Fingernägel und Haare. Der Panzer ist also gleichzeitig ihre Frisur.“
Nach dem Vortrag, kommen viele auf uns zu, haben noch weitere Fragen, wollen symbolisch eine Schuldkröte adoptieren (was bedeutet, dass sie einen Betrag spenden und einen Newsletter erhalten). „Das war spannend, vielen Dank, ich wusste gar nicht dass es Schildkröten schon solange gibt! Seit dem Dinosaurier-Zeitalter, das ist ja krass. Aber wenn sie es bis hierher geschafft haben, haben sie vielleicht auch gute Chancen uns zu überleben“, dann muss er lachen, der drahtige Familienvater, mit der perfekten Sommerbräune unter dem strahlend weißen Hemden.
„Ja, also ich glaube sowieso, dass wir uns viel mehr Sorgen, um den Menschen machen müssen und nicht um „die Natur“. Der Rest der Natur kann sehr gut ohne uns, aber wir nicht ohne sie. Darum geht es für mich eigentlich beim Naturschutz. Ums Überleben.“
Wie ich das so sage, eher plappernd, ohne darüber nachzudenken, merke ich, dass es stimmt. Auf jeden Fall hab ich damit ein bisschen die Stimmung gekillt. Babyschildkröten sind süß. Aber Meeresschildkröten sind auch ein unersetzlicher Teil unseres Ökosystems, weil sie u.a. tote Tiere fressen und so helfen, die Meere sauber zu halten. Das führt dazu, dass sie auch Plastik fressen, das leblos im Wasser herumtreibt. Jede Caretta Caretta, die im Notfallzentrum für Meeresschildkröten in Athen eingeliefert wird, hat durchschnittlich 11 Plastikteile im Magen. Häufig schlucken sie Plastiktüten, weil sie sie mit Quallen verwechseln, ihrer Leibspeise. Das ist tragisch für die Schildkröten aber auch ich würde eigentlich ganz gerne in einer Welt leben, in der einfach weniger Müll herumschwimmt und herumliegt.
Der Mann wirft 5€ in die Spendenbox und bedankt sich für mein Engagement. Immerhin.
Als wir aus dem Hotel heraus kommen, lesen wir die Nachricht, dass sich unsere Abholung noch etwas verzögern wird. Gegenüber von der indirekt beleuchteten, marmorierten Einfahrt des Hotels gibt es einen kleinen Supermarkt Day&Night oder auch ein Späti wie ich sagen würde. Das schreit doch nach einem Feierabenddrink im abendlichen Griechenland. Weil wir in unseren offiziellen T-Shirts keinen Alkohol trinken sollen, drehen wir diese auf Links und machen es uns gemütlich. Danach folgt meine letzte Nacht im Zelt, in dem ich einen Monat verbracht habe.
Ich beschließe meine neue Hängematte, an meinen neuen Freund weiterzugeben. Er erzählte mir in den letzten Tagen immer wieder, dass er bei dem ganzen Trubel Schwierigkeiten hat, einen Rückzugsort zu finden. Im Zelt ist es tagsüber zu heiß und nirgendwo im Camp, kann man mal eine Tür zu machen und kurz alleine sein. Ich biete ihm also meinen Hängematten-Platz, etwas abseits vom Camp vor der Eselkoppel an. Hier konnte ich immer gut zur Ruhe kommen.
„Ich kann dir doch nicht deine Hängematte wegnehmen. Brauchst du die nicht?“ fragt er ungläubig.
„Nicht vor nächstem Sommer. Du musst sie mir einfach vorher nach Berlin zurück bringen.“ Womit ich eigentlich sagen will, das ich es schön fände, wenn wir uns wieder sehen, auch wenn du in London lebst und ich in Berlin.
Er grinst „Das mach ich. Das mach ich wirklich.“
Ich baue also alles bis auf die Hängematte ab und bekomme noch ein letztes Mal Besuch von den drei Eseln, die ich Eselchen, Herr Esel und Jenny genannt habe. Jenny lässt sich streicheln, die anderen wollen nur Feigen von mir.
Meine Gedanken am Abreisetag sind mehr den Menschen als den Schildkröten gewidmet. Ich verlasse das Camp mitten in einem Gruppentreffen, bei dem es um die teils schwierigen gruppendynamischen Prozesse hier geht. Vor vier Wochen kam ich an, als alle Werwolfspielend im Kreis saßen, eine ganz andere Stimmung als jetzt. Seitdem sind viele Leute gekommen und gegangen und dieser ständige Wechsel, kann neben vielen anderen Aspekten der Arbeit ermüdend sein. Meine Zeit hier war geprägt vom Mittelmeer, von der unbeschreiblichen Aufregung, wilde Tiere in ihrem natürlich Lebensraum beobachten zu können, von Sonnenauf- und untergängen am Strand, von Schildkrötenwein und anderen Insidern mit neuen Freundinnen und Freunden, Beachvolleyball und Filmabende aber auch von wenig Schlaf, wenig Komfort, einer konstant wechselnden sozialen Situation, die mit Anspannung einhergeht, von Unterforderung, Überforderung, Desillusionierung und vielen, vielen Emotionen. Dabei sind für mich auch extrem positive Emotionen manchmal schwer auszuhalten. Meine oder die anderer Leute. Dazu kommen die Arbeitsumstände, die der Ehrenamtlichkeit geschuldet sind wie z.B. das Auto, dessen Kofferraum sich irgendwann nur noch mit einem Löffel öffnen ließ. Das kann sich hippiemäßig, punikg anfühlen und dementsprechend lustig sein, wenn alle gut drauf sind, aber wenn die Stimmung kippt, dann ist es frustrierend, das man sich mit sowas aufhalten muss.
Nachdem hier also jede und jeder zu Wort kam und sich aussprechen konnte, neigt sich das Teamtreffen langsam dem Ende zu und ich ziehe mich schon mal zurück um fertig zu packen. Die kriegen das schon ohne mich hin.
Ich habe viel gelernt. In einer anderen Phase meines Lebens würde ich jetzt sagen: vor allem über mich selbst. Aber ich weiß noch nicht, ob das stimmt. Ich habe auf jeden Fall absurd viel über Schildkröten gelernt, über das Mittelmeer, über den Strand als Lebensraum und über die Erforschung von Wildtieren. Wie viele andere im Projekt war ich auf der Suche nach etwas Sinnstiftendem und auch nach Gleichgesinnten und, wie immer, war ich auf der Suche nach einer guten Geschichte. Letztlich sind es tausend kleine Geschichten, die ich mit nach Hause nehme. Die ungewissen Schicksale und Reisen jeder einzelnen Schildkröte, die ich gesehen, gehalten, vergraben, bis zur Wasserkante begleitet habe und die Geschichten, die sich hinter den Spuren im Sand verbergen, die ich morgens fand. Die Geschichten, die mir andere Volontäre im Camp erzählt haben:
„Alle in meiner Familie sind beim Militär.“
„Ich bin mit den Hells Angels aufgewachsen und ich liebs!“
„Dieses Projekt hier, hat mir geholfen, mit meiner Depression klar zu kommen.“
„Ich habe mal in einem Ferienlager gearbeitet, in dem Kinder misshandelt wurden.“
„Ich bin mal mit meinem Vater auf einer Lama-Farm eingebrochen, um sie zu streicheln.“
Hinter jedem dieser Sätze steckt ein Gespräch, eine Person und eine krasse Geschichte.
Dazu kommen die kleinen Anekdoten, die mir Touristinnen und Touristen erzählt haben. Wie das Hobby-Theaterpärchen aus dem Saarland, deren Sohn nach zwanzig Jahren beschlossen hat, seinen extrem lukrativen Job aufzugeben, um Polizist zu werden. Oder die drei schottischen Seniorinnen, die zum ersten mal seit vierzig Jahren wieder zusammen verreisen. All die Leute, die mich morgens am Strand abfingen, während ich zählte, suchte oder notierte, um mir freudig zu erzählen wann sie, wo, zuerst und zuletzt eine Schildkröte gesehen haben. „Gestern Abend! Schauen Sie mal!“ „Heute morgen! Schauen Sie mal!“ „Damals auf Hawaii! Schauen Sie mal!“ Und dann zeigen sie mir ihre Fotos und Videos, wie stolze Großmütter und Katzenbesitzer. Natürlich gibt es auch die weniger wohlwollenden Mitmenschen, die mir begegnet sind. Die, die unsere Arbeit sabotieren, uns beleidigen oder belästigen. Oder auch mal gewisse Herren, die mich über Schildkröten aufklären wollen. “Ja ja toller Vortrag aber Ihnen ist ein Fehler unterlaufen. Sie haben gesagt, diese Schildkröte hätte keine natürlichen Feinde, nur den Menschen. Aber der Tigerhai! Der Tigerhai frisst sehr gerne Schildkröten!” Stimmt. Der lebt aber nicht im Mittelmeer.
All diese größeren und kleineren Negativitäten waren in meinem Fall ein verschwind geringer Anteil, der hinter unbeteiligter Zurkenntnisnahme (im schlimmsten Fall) und auch oft hinter wohlwollendem Interesse und aufrichtiger Anerkennung verschwimmt.
Die Rückreise ist viel entspannter als die Hinreise. Tino und ich haben entschieden, den Abend vor dem Rückflug in einem Hotel in Flughafennähe zu verbringen, damit wir weniger Stress haben. Wie nah wir am Flughafen sind, merken wir, als wir, nach einem Hafenspaziergang in ein gemütliches, griechisches Restaurant einkehren: Rustikale Holztische, ein großer, knackiger Feta Salat, zutrauliche Katzen, die Tinos Zucchini verschmähen, in der Hoffnung, dass doch noch ein Steak abfällt und dann das ohrenbetäubende Sausen eines Flugzeugs das über unsere Köpfe hinwegzieht. Zuerst ziehen wir geschockt die Köpfe ein und halten uns die Ohren zu, irgendwann lachen wir nur noch drüber. Ich bin überrascht, wie malerisch Heraklion ist. Ich sauge die Luft und das Ambiente des letzten Abendspaziergangs auf. Die kleinen Häuser, in denen hauptsächliche ältere Menschen zu wohnen scheinen, die abends auf dem Bordstein sitzen, spielen und trinken. Oder bei geöffneter Wohnungstür fernsehen. Und dann der Himmel, wie immer blau und makellos, der sich wie eine Operafolie im Theater um die Szenerie der Stadt spannt.
Auf dem Rückflug, nachdem alles Gepäck verstaut wurde, der Start geglückt ist und die leuchtenden Anschnall-Symbole über mir ausgehen, überkommt mich eine Erschöpfung mit ungeahnter Wucht. Körperlich und emotional. Ich fühle mich plötzlich genauso rausgeworfen aus dieser Welt, wie ich mich hinein geschmissen habe. Diese Welt, die ich nur noch über eine Whatsapp-Gruppe verfolge, aus der ich noch nicht austreten mag. Ein sehr untypisches Verhalten für mich. Ich glaube ich brauch noch etwas, um das alles sacken zu lassen. In Hannover kann ich dann endlich meinen Backpack abholen, mit all den Dingen, die ich gar nicht gebraucht habe. Naja, zwei kurze Hosen waren drin, die ich schon gebraucht hätte, dann hätte ich mir vor Ort keine neuen kaufen müssen. Bevor ich den roten Boardingsize-Koffer zurückgebe, überprüfe ich nochmal routinemäßig alle Taschen und Fächer. Alle bis auf das eine ganz kleine Reißverschlussfach, das ich eh nie benutzt habe. Meine Intuition sagt mir: Schau rein, nur der Vollständigkeit halber. Ich öffne den Reißverschluss und finde mehrere 50 Euro Scheine. In dem Moment fällt mir ein, dass ich vor Wochen mein ganzes Bargeld in dieser kleinen, unauffälligen Innentasche verstaut habe. Weil das so schön versteckt und unscheinbar ist, da wird das nicht geklaut. Das ist ja grad nochmal gut gegangen. Unser Zug von Hannover nach Berlin hat natürlich Verspätung, in Deutschland ist also alles beim Alten. Heute ist mir die Verspätung herzlich egal, ich habe nichts weiter vor. Nur Ankommen.
An meinem letzten Tag bin ich hin und hergerissen zwischen übermüdet, melancholisch und aufgeregt. Am letzten Abend halte ich nochmal einen Vortrag in einem sehr luxuriösen Hotel auf Kreta. Die Managerin des Hotels fragt mich, ob ich den Vortrag zufällig auch bilingual auf Deutsch und Englisch halten kann. Da freue ich mich doch, endlich mal mein komplettes Skillset auspacken zu können! Vorher werden ich und mein Kollege noch vom Hotel zum Abendessen eingeladen. Wir sollen uns einfach am Buffet bedienen. Das Essen ist sehr, sehr gut. Leider kaum vegetarisch, aber allein die Salatbar die einen ganzen Raum einnimmt, überzeugt. Mein Highlight ist allerdings der kleine Dessertwagen voller Tiramisu, Baklava, Törtchen, Kuchen und Crème brûlée. Diese Abendessen sind immer ein willkommene Abwechslung zum Camp-Essen, welches von wechselnder und teilweise zweifelhafter Qualität ist. Wobei ich sagen muss, seitdem ein Volontär aufgetaucht ist, dessen Nebenjob tatsächlich Kochen ist, hat es sich rasant verbessert. Er sitzt mir auch jetzt im Hotel gegenüber, wir haben uns über die letzten Wochen ganz gut angefreundet. Glaube ich zumindest.
Der Vortrag macht Spaß, ich bin ganz in meinem Element. Ich kann jetzt nach vier Wochen noch ein letztes Mal das ganze Nieschenwissen auspacken, dass ich mir angeeignet habe. Mein Publikum besteht sowohl aus Erwachsenen als auch aus Kindern. „Wer von euch weiß, aus was Schildkrötenpanzer sind?“ (Diese Frage habe ich mir bei einer Strandführung von unser Base Camp Leiterin abgeguckt, sie ist wohl der größte Schildkröten-Nerd der mir hier begegnet ist.) „Schildkrötenpanzer sind aus Keratin, daraus sind auch unsere Fingernägel und Haare. Der Panzer ist also gleichzeitig ihre Frisur.“
Nach dem Vortrag, kommen viele auf uns zu, haben noch weitere Fragen, wollen symbolisch eine Schuldkröte adoptieren (was bedeutet, dass sie einen Betrag spenden und einen Newsletter erhalten). „Das war spannend, vielen Dank, ich wusste gar nicht dass es Schildkröten schon solange gibt! Seit dem Dinosaurier-Zeitalter, das ist ja krass. Aber wenn sie es bis hierher geschafft haben, haben sie vielleicht auch gute Chancen uns zu überleben“, dann muss er lachen, der drahtige Familienvater, mit der perfekten Sommerbräune unter dem strahlend weißen Hemden.
„Ja, also ich glaube sowieso, dass wir uns viel mehr Sorgen, um den Menschen machen müssen und nicht um „die Natur“. Der Rest der Natur kann sehr gut ohne uns, aber wir nicht ohne sie. Darum geht es für mich eigentlich beim Naturschutz. Ums Überleben.“
Wie ich das so sage, eher plappernd, ohne darüber nachzudenken, merke ich, dass es stimmt. Auf jeden Fall hab ich damit ein bisschen die Stimmung gekillt. Babyschildkröten sind süß. Aber Meeresschildkröten sind auch ein unersetzlicher Teil unseres Ökosystems, weil sie u.a. tote Tiere fressen und so helfen, die Meere sauber zu halten. Das führt dazu, dass sie auch Plastik fressen, das leblos im Wasser herumtreibt. Jede Caretta Caretta, die im Notfallzentrum für Meeresschildkröten in Athen eingeliefert wird, hat durchschnittlich 11 Plastikteile im Magen. Häufig schlucken sie Plastiktüten, weil sie sie mit Quallen verwechseln, ihrer Leibspeise. Das ist tragisch für die Schildkröten aber auch ich würde eigentlich ganz gerne in einer Welt leben, in der einfach weniger Müll herumschwimmt und herumliegt.
Der Mann wirft 5€ in die Spendenbox und bedankt sich für mein Engagement. Immerhin.
Als wir aus dem Hotel heraus kommen, lesen wir die Nachricht, dass sich unsere Abholung noch etwas verzögern wird. Gegenüber von der indirekt beleuchteten, marmorierten Einfahrt des Hotels gibt es einen kleinen Supermarkt Day&Night oder auch ein Späti wie ich sagen würde. Das schreit doch nach einem Feierabenddrink im abendlichen Griechenland. Weil wir in unseren offiziellen T-Shirts keinen Alkohol trinken sollen, drehen wir diese auf Links und machen es uns gemütlich. Danach folgt meine letzte Nacht im Zelt, in dem ich einen Monat verbracht habe.
Ich beschließe meine neue Hängematte, an meinen neuen Freund weiterzugeben. Er erzählte mir in den letzten Tagen immer wieder, dass er bei dem ganzen Trubel Schwierigkeiten hat, einen Rückzugsort zu finden. Im Zelt ist es tagsüber zu heiß und nirgendwo im Camp, kann man mal eine Tür zu machen und kurz alleine sein. Ich biete ihm also meinen Hängematten-Platz, etwas abseits vom Camp vor der Eselkoppel an. Hier konnte ich immer gut zur Ruhe kommen.
„Ich kann dir doch nicht deine Hängematte wegnehmen. Brauchst du die nicht?“ fragt er ungläubig.
„Nicht vor nächstem Sommer. Du musst sie mir einfach vorher nach Berlin zurück bringen.“ Womit ich eigentlich sagen will, das ich es schön fände, wenn wir uns wieder sehen, auch wenn du in London lebst und ich in Berlin.
Er grinst „Das mach ich. Das mach ich wirklich.“
Ich baue also alles bis auf die Hängematte ab und bekomme noch ein letztes Mal Besuch von den drei Eseln, die ich Eselchen, Herr Esel und Jenny genannt habe. Jenny lässt sich streicheln, die anderen wollen nur Feigen von mir.
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Meine Gedanken am Abreisetag sind mehr den Menschen als den Schildkröten gewidmet. Ich verlasse das Camp mitten in einem Gruppentreffen, bei dem es um die teils schwierigen gruppendynamischen Prozesse hier geht. Vor vier Wochen kam ich an, als alle Werwolfspielend im Kreis saßen, eine ganz andere Stimmung als jetzt. Seitdem sind viele Leute gekommen und gegangen und dieser ständige Wechsel, kann neben vielen anderen Aspekten der Arbeit ermüdend sein. Meine Zeit hier war geprägt vom Mittelmeer, von der unbeschreiblichen Aufregung, wilde Tiere in ihrem natürlich Lebensraum beobachten zu können, von Sonnenauf- und untergängen am Strand, von Schildkrötenwein und anderen Insidern mit neuen Freundinnen und Freunden, Beachvolleyball und Filmabende aber auch von wenig Schlaf, wenig Komfort, einer konstant wechselnden sozialen Situation, die mit Anspannung einhergeht, von Unterforderung, Überforderung, Desillusionierung und vielen, vielen Emotionen. Dabei sind für mich auch extrem positive Emotionen manchmal schwer auszuhalten. Meine oder die anderer Leute. Dazu kommen die Arbeitsumstände, die der Ehrenamtlichkeit geschuldet sind wie z.B. das Auto, dessen Kofferraum sich irgendwann nur noch mit einem Löffel öffnen ließ. Das kann sich hippiemäßig, punikg anfühlen und dementsprechend lustig sein, wenn alle gut drauf sind, aber wenn die Stimmung kippt, dann ist es frustrierend, das man sich mit sowas aufhalten muss.
Nachdem hier also jede und jeder zu Wort kam und sich aussprechen konnte, neigt sich das Teamtreffen langsam dem Ende zu und ich ziehe mich schon mal zurück um fertig zu packen. Die kriegen das schon ohne mich hin.
Ich habe viel gelernt. In einer anderen Phase meines Lebens würde ich jetzt sagen: vor allem über mich selbst. Aber ich weiß noch nicht, ob das stimmt. Ich habe auf jeden Fall absurd viel über Schildkröten gelernt, über das Mittelmeer, über den Strand als Lebensraum und über die Erforschung von Wildtieren. Wie viele andere im Projekt war ich auf der Suche nach etwas Sinnstiftendem und auch nach Gleichgesinnten und, wie immer, war ich auf der Suche nach einer guten Geschichte. Letztlich sind es tausend kleine Geschichten, die ich mit nach Hause nehme. Die ungewissen Schicksale und Reisen jeder einzelnen Schildkröte, die ich gesehen, gehalten, vergraben, bis zur Wasserkante begleitet habe und die Geschichten, die sich hinter den Spuren im Sand verbergen, die ich morgens fand. Die Geschichten, die mir andere Volontäre im Camp erzählt haben:
„Alle in meiner Familie sind beim Militär.“
„Ich bin mit den Hells Angels aufgewachsen und ich liebs!“
„Dieses Projekt hier, hat mir geholfen, mit meiner Depression klar zu kommen.“
„Ich habe mal in einem Ferienlager gearbeitet, in dem Kinder misshandelt wurden.“
„Ich bin mal mit meinem Vater auf einer Lama-Farm eingebrochen, um sie zu streicheln.“
Hinter jedem dieser Sätze steckt ein Gespräch, eine Person und eine krasse Geschichte.
Dazu kommen die kleinen Anekdoten, die mir Touristinnen und Touristen erzählt haben. Wie das Hobby-Theaterpärchen aus dem Saarland, deren Sohn nach zwanzig Jahren beschlossen hat, seinen extrem lukrativen Job aufzugeben, um Polizist zu werden. Oder die drei schottischen Seniorinnen, die zum ersten mal seit vierzig Jahren wieder zusammen verreisen. All die Leute, die mich morgens am Strand abfingen, während ich zählte, suchte oder notierte, um mir freudig zu erzählen wann sie, wo, zuerst und zuletzt eine Schildkröte gesehen haben. „Gestern Abend! Schauen Sie mal!“ „Heute morgen! Schauen Sie mal!“ „Damals auf Hawaii! Schauen Sie mal!“ Und dann zeigen sie mir ihre Fotos und Videos, wie stolze Großmütter und Katzenbesitzer. Natürlich gibt es auch die weniger wohlwollenden Mitmenschen, die mir begegnet sind. Die, die unsere Arbeit sabotieren, uns beleidigen oder belästigen. Oder auch mal gewisse Herren, die mich über Schildkröten aufklären wollen. “Ja ja toller Vortrag aber Ihnen ist ein Fehler unterlaufen. Sie haben gesagt, diese Schildkröte hätte keine natürlichen Feinde, nur den Menschen. Aber der Tigerhai! Der Tigerhai frisst sehr gerne Schildkröten!” Stimmt. Der lebt aber nicht im Mittelmeer.
All diese größeren und kleineren Negativitäten waren in meinem Fall ein verschwind geringer Anteil, der hinter unbeteiligter Zurkenntnisnahme (im schlimmsten Fall) und auch oft hinter wohlwollendem Interesse und aufrichtiger Anerkennung verschwimmt.
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Die Rückreise ist viel entspannter als die Hinreise. Tino und ich haben entschieden, den Abend vor dem Rückflug in einem Hotel in Flughafennähe zu verbringen, damit wir weniger Stress haben. Wie nah wir am Flughafen sind, merken wir, als wir, nach einem Hafenspaziergang in ein gemütliches, griechisches Restaurant einkehren: Rustikale Holztische, ein großer, knackiger Feta Salat, zutrauliche Katzen, die Tinos Zucchini verschmähen, in der Hoffnung, dass doch noch ein Steak abfällt und dann das ohrenbetäubende Sausen eines Flugzeugs das über unsere Köpfe hinwegzieht. Zuerst ziehen wir geschockt die Köpfe ein und halten uns die Ohren zu, irgendwann lachen wir nur noch drüber. Ich bin überrascht, wie malerisch Heraklion ist. Ich sauge die Luft und das Ambiente des letzten Abendspaziergangs auf. Die kleinen Häuser, in denen hauptsächliche ältere Menschen zu wohnen scheinen, die abends auf dem Bordstein sitzen, spielen und trinken. Oder bei geöffneter Wohnungstür fernsehen. Und dann der Himmel, wie immer blau und makellos, der sich wie eine Operafolie im Theater um die Szenerie der Stadt spannt.
︎︎︎
Auf dem Rückflug, nachdem alles Gepäck verstaut wurde, der Start geglückt ist und die leuchtenden Anschnall-Symbole über mir ausgehen, überkommt mich eine Erschöpfung mit ungeahnter Wucht. Körperlich und emotional. Ich fühle mich plötzlich genauso rausgeworfen aus dieser Welt, wie ich mich hinein geschmissen habe. Diese Welt, die ich nur noch über eine Whatsapp-Gruppe verfolge, aus der ich noch nicht austreten mag. Ein sehr untypisches Verhalten für mich. Ich glaube ich brauch noch etwas, um das alles sacken zu lassen. In Hannover kann ich dann endlich meinen Backpack abholen, mit all den Dingen, die ich gar nicht gebraucht habe. Naja, zwei kurze Hosen waren drin, die ich schon gebraucht hätte, dann hätte ich mir vor Ort keine neuen kaufen müssen. Bevor ich den roten Boardingsize-Koffer zurückgebe, überprüfe ich nochmal routinemäßig alle Taschen und Fächer. Alle bis auf das eine ganz kleine Reißverschlussfach, das ich eh nie benutzt habe. Meine Intuition sagt mir: Schau rein, nur der Vollständigkeit halber. Ich öffne den Reißverschluss und finde mehrere 50 Euro Scheine. In dem Moment fällt mir ein, dass ich vor Wochen mein ganzes Bargeld in dieser kleinen, unauffälligen Innentasche verstaut habe. Weil das so schön versteckt und unscheinbar ist, da wird das nicht geklaut. Das ist ja grad nochmal gut gegangen. Unser Zug von Hannover nach Berlin hat natürlich Verspätung, in Deutschland ist also alles beim Alten. Heute ist mir die Verspätung herzlich egal, ich habe nichts weiter vor. Nur Ankommen.
Nach einem Monat unterm Feigenbaum sieht mein Zelt so aus. Da ergibt das Putzen mal Sinn.
Bye Bye Kreta. Kurz vor Abflug.
Nach einem Monat hab ich meinen Backpack wieder zurück.