Tag 2 bis 4

Meine Teampartnerin und ich treffen auf die drei des anderen Teams und so stehen wir jetzt also insgesamt zu fünft in einer Ansammlung von über 20 Nestern. Sie sind von einer ca. 10 cm hohen  Bambus-Umzäunung umgeben. Diese Umzäunung wurde ebenfalls von Volontären aufgestellt und hilft den Schlüpflingen den Weg ins Meer zu finden. Denn eigentlich soll es so ablaufen: Nach dem Schlüpfen laufen die Babyschildkröten zur hellsten Lichtquelle, dem Mond, was sie unweigerlich direkt ins Meer führt. An Stränden, die so stark von Menschen genutzt werden, wie hier auf Kreta, gibt es mehrere starke Lichtquellen, die für Irritation sorgen. Da ist die hellste Lichtquelle auch manchmal ein Hotel oder eine Bar auf der anderen Straßenseite und damit sie dort nicht hinlaufen, werden diese Mini-Zäune in U-Form um das Nest (oder die Nester) aufgestellt, mit einer Öffnung zum Meer hin, sodass sie gar nicht irgendwo anders hinlaufen können. Diese Zäune werden nicht automatisch um jedes Nest herum gestellt, sondern nur, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass die Schildkröten an dieser Stelle desorientiert sind. Dafür notieren wir, wie die Spuren im Sand verlaufen. In diesem Fall wurde ein solcher Zaun schon vor mehreren Tagen hier aufgestellt, doch leider kann er nicht alle Probleme lösen. Manche sind einfach nicht stark genug, um es ins Wasser zu schaffen, und dann wird ihnen irgendwann die erbarmungslose Hitze zum Verhängnis. So ist es ein paar Schlüpflingen hier ergangen, ich erspare mir den Anblick. Mir ist ehrlich gesagt auch langsam richtig warm. Es ist zwar erst 9 Uhr, aber der Sand ist heiß und es gibt keinen Wind mehr. Ich weiß auch gerade gar nicht so richtig, was hier passiert und was meine Aufgabe ist, also stelle ich mich Richtung Straße in den Schatten. “A Hatchling!” (Ein Schlüpfling) ruft es mir da von der vorderen Seite des Strandes her zu. So schnell wie möglich und so vorsichtig wie nötig trete ich an die Babyschildkröte heran, die sichtlich kämpft und dabei kaum vorwärts kommt. Sie ist etwas kleiner als meine Handfläche, aber ansonsten sieht sie aus wie eine komplett fertige Schildkröte, bis hin zu den fein gezackten Rändern ihres Panzers. Die anderen wissen, was zu tun ist, ich stehe nur da und beobachte. Wobei ich aufgefordert werde, so zu stehen, dass mein Schatten auf die Schildkröte fällt, damit sie nicht weiter austrocknet. Als nächstes wird ihr ein Korridor in den Sand geschaufelt, eine Art Express-Highway zum Meer, doch sie schafft es kaum mehr, sich fort zu bewegen. Warum nehmen wir sie nicht einfach und setzen sie ins Meer? Wäre das nicht viel einfacher? Aber nein, sie muss es alleine schaffen. Wenn sie ihre Flossen jetzt nicht im Sand trainiert, wird sie im Meer ertrinken. Das Team entscheidet, dass sie die besten Überlebenschancen hat, wenn wir sie wieder einbuddeln. Bitte was? Da wird schon ein Loch von ca 30 cm in den Sand gegraben und der Schlüpfling hineingesetzt. Dann wird das Loch wieder mit Sand (der kalte zuerst) aufgefüllt. Hier kann er sich erholen und es am nächsten Tag nochmal versuchen. So entkräftet hätte er weder am Strand noch im Wasser eine Chance. Auch wenn ich verstehe, dass es das Beste für den Schlüpfling ist, ist es ein gewöhnungsbedürftiger Prozess für mich. “Ich hab schon mal erlebt, dass so einer es dann geschafft hat.” Wird auf munternd in die müde Runde gesgat. Die Stelle, des “Neuen Nests” wird mit einem beschrifteten Stock markiert. Und das war dann auch wirklich die letzte Aktion für diese Schicht.


Im Camp bekomme ich bald Besuch von Anna, die gerade beim Supermarkt war. Sie hat mir eine leichte, senffarbene Baumwoll-Decke und ein kleines Kissen gekauft, ohne dass ich sie darum gebeten habe. Ich bin ein bisschen gerührt davon, wie selbstverständlich sie sich um mich kümmert. “Du hast dich gestern ja auch so lieb um mich gekümmert”, sagt sie in meine Schulter hinein, während wir uns umarmen. Vor allem die ersten Tage sind für jede von uns mit Orientierung und Einrichtung ausgefüllt. Wie machen das Leute, die nur eine Wochhe irgendwo campen? Sobald man ein bisschen System für sich etabliert hat, muss man wieder zusammen packen. Vielleicht sind das Leute, die sich mit dem Ort, ihrem Equipment oder sich selbst besser auskennen udn nicht so viel Zeit zum Ankommen brauchen. 
Wir verabreden uns für einen Sprung ins Meer, doch leider ist die rote Fahne immer noch oben, wenn sie auch heute einen grünen Streifen hat. Es ist also etwas ruhiger, sodass wir uns kurz erfrischen können. Und dank Annas Decke fühle mich in meinem Zelt jetzt auch ein bisschen heimeliger. 

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Ich schlafe so lange und gut wie lange nicht mehr. Genau genommen war das ja erst meine dritte Nacht aber die Tage fühlten sich bisher so voll an, als wäre ich schon mindestens eine Woche auf Kreta. Der heutige Tag ist aber entspannter, auch das Meer hat sich beruhigt. Das Fähnchen ist zwar rot, doch das muss an etwas anderem liegen, vielleicht sind die Rettungsschwimmer noch gar nicht da gewesen, um es aus zu tauschen. Das Mittelmeer breitet sich glatt und weit vor mir aus, heute macht es mir keine Angst. Ich nehme einen tiefen Atemzug und tauche ein. Dann lasse ich mich eine kleine Ewigkeit auf der Wasseroberfläche treiben.  

Ein paar bekannte Gesichter aus dem Camp sitzen am Strand und lächeln mich freundlich an, als ich mich zu ihnen setze. Ich erzähle ihnen vom gestrigen Tag und dem Einbuddeln der Babyschuldkröte. Eine junge Frau neben mir lacht vertsändnisvoll und erzählt mir davon, dass es ihr bei ihrer aller ersten Strand-Erkundung auch so ging. “Eine Stunde lang habe ich versucht das kleine Ding ins Wasser zu begleiten, dann sagte jemand aus dem Team wir graben ihn jetzt wieder ein. Ich wusste überhuapt nicht, dass das ein Ding ist, also das man das macht und hab angefangen zu weinen.” Fühl ich. Es ist der Tag der skurrillen Tier-Geschichten: eine französische Voluntärin erzählt mir vom traditionellen Stierkampf in Montpieller. So ein lustiges Festival, das lohne sich auf jeden Fall! Als Kind hat sie da auch mitgemacht. Es ist mir völlig unbegreiflich wie eine Tierschützerin das Wort “Stierkampf” mit leuchtenden Augen sagen kann. Bei spansichen Stierkämpfen werden die Tiere immerhin über 20 Minuten mit mehreren Stichen erdolcht. Aber in Montpellier ist das anders, versichert sie. Dem Stier wird ein Faden zwischen die Hörner gespannt und die Aufgabe des Stierkämpfers ist es lediglich, das Band zu zerschneiden. Was genau die Kinder da machen habe ich allerdings bis zum Schluss nicht verstanden. Naja macht ja nichts. Ich finde es klingt immernoch nicht nach einer super spaßigen Zeit für das Tier aber verglichen mit dem, was die Menschen mit Legehühnern, Mastschweinen und anderen Rindern so anstellen, klingt es erstmal harmlos. 


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Ruhe ist wirklich was anderes.
Auf dem gesamten Campingplatz, wo sich auch unser Schildkröten-Rettungs-Base-Camp befindet, hört man das Zirpen der Zikaden. Der Geräuschteppich ist konstant, sodass ich mich schnell daran gewöhnt habe und trotzdem erschrecke ich mich innerlich manchmal, wenn sie ein paar mal am Tag nicht nur so vor sich hin zirpen, sondern wie auf Kommando beginnen, sich über die Bäume hinweg anzuschreien. Das Grundrauschen schwillt plötzlich an und wird immer intensiver, hält ein paar Minuten an und schwillt dann genauso abrupt wieder ab. Was sie sich wohl sagen wollen? Rufen sie sich gegenseitig zum Essen nach Hause?
-Essen! Es gibt Essen!
-Cool, was gibst denn?!
-Pommes!
-Oh ja!
-Oh nö!
-Magst du keine Pommes?!
-Ne ist schon okay! Ich komm jetzt!
-Worüber redet ihr?! Es ist so laut hier! Ich versteh nichts!
-Es gibt Pommes!
-Kann jemand Ketchup mitbringen?
-Jaha! Mach ich!
-Danke! Und Essig!
-OKE!
Und dann ist es halt wieder vorbei. Alle wissen Bescheid. 

An meinem ersten Morgen hier, war es nahezu Punkt 6 Uhr morgens. Ich habe das Gefühl, man könnte den Wecker nach ihnen stellen. Und dann gibt es nochmal einen Höhepunkt zur Mittagshitze, da kommt dann einfach alles zusammen: Hitze, Zikaden, Müdigkeiten (weil ich oft um 5 Uhr aufstehe). Ich versuche die Mittagszeit immer zu verschlafen, das funktioniert ganz gut. Und jeden Tag so um 16:00 Uhr denkt man sich dann: Wow, es  kühlt ab, wieder mal geschafft. Und  man erfreut sich an den frischen Brisen und immer länger werdenden Schatten. Ab dann kann man wieder normal denken. Man schwitzt nicht mehr vom bloßen Existieren.
Der heutige Abend erscheint mir besonders angenehm. Es ist Sonntag. Jeden Sonntag gibt es einen Schildkröten-Vortrag in der Taverne (es gibt nur eine), den ich mir heute anschaue. Viele der Informationen kannte ich schon, einige sind neu, auf jeden Fall schadet es nicht, Dinge auch immer wieder und wieder zu hören, vor allem da ich nächste Woche selber die Präsentation halten soll. Das sehe ich im Wochenplan, der just in diesem Moment in die Whatsapp-Gruppe gepostet wird. Die anderen Volontäre beginnen sofort über Lieblings- und missliebige Schichten zu tuscheln, sich über ihre Team-Zusammensetzungen zu freuen oder auch darüber, mit wem sie ihren nächsten freien Tag zusammen haben. Ich sehe, dass ich morgen wieder eine Strandschicht habe. Einerseits ist das total aufregend. Morgens am Strand, das ist eigentlich, wo die spannenden Sachen passieren. Dort wird gemessen, gebuddelt und GPS Daten ermittelt. Dort werden Nester gesucht und gefunden, Schildkröten gesichtet und unterstützt. Dort finden Sie ihren Weg ins Wasser. Aber meine letzte Schicht war schon unter brüllender Hitze, die ich nahezu unerträglich fand. Und dabei sahen mich alle aus dem Team an und sagten: das war noch gar nichts. Allerdings hatte ich da auch keine Kühlweste an, die war mir dann doch einfach zu peinlich. Immer wieder werden mir Geschichten erzählt von morgendlichen Schichten, die sieben oder acht Stunden dauerten, endloses Graben von Strandlöchern und Schildkröten-Beschattung (im Sinne von Schatten spenden, nicht bespitzeln). Wenn nichts passiert, kann so eine Strandschicht ganz gemütlich sein. Aber ein bisschen will ich ja auch die Aufregung und die magischen Momente. Es ist auf jeden Fall ein Abend an dem ich wieder etwas früher schlafen gehen sollte. Vorher lege ich mich aber noch einmal mit meiner Stirnlampe in die Hängematte und lese mein Buch zu Ende. Die Stimmung im Camp ist sehr gemütlich. Ich höre das klappern von Geschirr -der Küchendienst räumt zusammen. Ich entdecke eine Schüssel neben der Hängematte in der ich mir zuvor Joghurt und Honig gemacht habe und wasche sie kurz ab. Das Waschbecken grenzt an die Mauer der Esel-Koppel, und ich überprüfe bei der Gelegenheit ob sie genug Wasser haben. Ich habe noch nicht herausgefunden wem sie gehören, wie sie heißen oder wer sich eigentlich um sie kümmert -abgesehen von uns. Offiziell gehören sie nicht zur Organisation, aber in diesem Hippiecamp fühlt sich immer jemand verantwortlich, ihr Wasser auf zu füllen. Wasser für die Esel. Ich füttere sie auch manchmal mit knusprigen Blättern und Bambus und als besonderes Schmankerl gibt es auch mal eine halbe Feige. Ich blicke über die Steinmauer in den Nachtblauen Himmel, die Sonne ist vor kurzem untergegangen. Weit hinter der Koppel glitzern die Lichter der Stadt. Wunderschön. Die Zikaden schlafen und ich widme mich wieder, sanft schaukelnd, meinem Buch. Mein Leseabend mit mir selbst wird jedoch von einer kichernden Gruppe begleitet, die vor der Sofa Ecke des Base Camps Laptop und Beamer aufbauen (vermutlich das gleiche Set-Up wie ich gerade in der Taverne beim Vortrag gesehen habe) und sie beginnen zu viert ein kleines Open Air Privatkino. Der Film: Mamma Mia. Nach und nach gesellen sich mehr Leute dazu und auch ich kann diesem friedlichen Klassenfahrtsvibe nicht lange widerstehen, setze mich auf ein Paletten-Sofa und singe bald jedes Lied mit.



das bin ich: ein Esel, der schüchtern im Schatten steht, wärend andere die Sonnen genießen