Tag 6 bis 7

Morgens habe ich gar keinen Bammel mehr vor der Strandschicht. Bevor die Sonne aufgegangen ist, kann man sich die Hitze auch nicht wirklich vorstellen, auch wenn man sie schon mehrmals erlebt hat. Letztes Mal war mir meine Kühlweste zu peinlich, aber heute habe ich sie dabei.
Diesmal sind wir nicht zu zweit, sondern zu viert und fahren nicht mit dem Auto, sondern laufen erstmal knapp 3 Kilometer zu unserem Strandabschnitt. Es handelt sich um einen anderen Abschnitt als letztes Mal, viel näher an der Stadt und dadurch viel touristischer. Wir laufen erstmal 40 Minuten zusammen die Straße entlang, bis zu unserem Startpunkt, ohne viel zu sagen.  Einmal müssen ich und das Mädchen neben mir gleichzeitig gähnen und dann darüber schmunzeln. Nonverbale Kommunikation ist manchmal die beste. Es fällt mir gar nicht so leicht, mitzuhalten, bei dem schnellen Schritt, den die anderen vorgeben. Vielleicht lasse ich mich auch zu viel ablenken von der Stadt im Morgendämmerlicht. Ich sehe drei Bauarbeiter, die Zebrastreifen mit einer riesigen Schablone auf die Straße malen. Die Farbe riecht chemisch, ein bisschen beißend, wie Farbe nun mal riecht, aber mir gefällt dieser Kontrast zum idyllischen Inselpanorama. Die Bäcker, an denen wir vorbei laufen, verströmen einen ganz anderen Duft. Ich hab vergessen, mir einen Müsliriegel ein zu stecken oder eine Banane zu essen. Wenn es um 05:20 zur Strandschicht losgeht, klingelt mein Wecker immer um 05:00 das erste Mal. Dann schlummere ich bis 05:05, werfe mich in Shorts, Shirt und Schlappen, schnappe mir meinen Rucksack mit der Wasserflasche und los geht’s. Heute morgen war ich noch kurz im Waschhaus um meine Weste vorzubereiten, da hab ich das mit dem Essen einfach vergessen.

Zu spät, wir sind da und ich biete mich direkt für das „Gefahren“ Buch an. Weil ich mich damit schon auskenne. Am Anfang des Buchs gibt es eine Tabelle mit allen Gefahren, die zu notieren sind und ihre Kürzel. Es sind zum einen naheliegende Gefahren, wie zum Beispiel wenn eine Nest-Markierung verschoben wurde (was außerdem illegal ist). Oder auch ein Motorboot-Verleih, da es beim Fahren auf dem Wasser häufig zu Zusammenstößen mit Schildkröten kommt. Auch wenn sie im Wasser leben, sind es Reptilien, das heißt, sie haben Lungen und brauchen Sauerstoff. Sie müssen also hin und wieder an die Wasseroberfläche, um zu atmen. Dabei entstehen Zusammenstöße und Kopfverletzungen. Motorboote sind nicht illegal, aber eine Gefahr stellen sie trotzdem dar. Andere Gefahren sind für mich etwas Abstrakter, wie Liegestühle. Aber ich schreibe sie auf. Wieder finden wir Spuren, ich lerne den Unterschied zwischen der Spur einer Babyschildkröte und der einer erwachsenen Schilidkröte kennen. Die Nest-Saison, in der die ausgewachsenen Schildkröten an den Strand kommen, beginnt im Juni und geht bis Ende Juli, um diese Zeit findet man nur noch selten solche Spuren. Richtige Nester erkennt man an den Spuren, die aus dem Wasser kommen und ins Wasser führen und einem kleinen Sandhaufen. Diese “Tarnung” soll es schwieriger machen, die Nester auszubuddeln, sind aber extrem auffällig, was ich ziemlich witzig finde. Wenn zu viel Zeug im Weg ist, ist der Sand nicht geeignet, dann sieht man keine Nester, sondern nur eine Spur.  Diese sieht manchmal aus, wie die untere Hälfte einer Sicherheitsnadel, ein Streifen führt in die Mitte des Strandes, dann gibt es eine kleine Kuhle, und die Spur führt wieder ins Meer. Das bedeutet, dass sie kein Nest gegraben hat, sie hat den Sand nur getestet, in dem sie mit ihrem großen, runden Bauch darin herum gewiggelt ist (ich habe gesucht, es gibt keine gute Übersetzung). In beiden Fällen notieren wir einen solchen Fund und nehmen die GPS Koordinaten des Nicht-Nests auf. Ich weiß nicht was einen geeigneten von einem ungeeigneten Sand unterscheidet aber dieser hier ist für mich zum Laufen ziemlich mühsam. Ich schreibe so langsam und es gibt es so viele Gegenstände am Strand zu notieren, dass ich ein bisschen hinterher hinke. Als ich eine Ansammlung von sehr luxuriösen Liegestühlen notieren will, sehe ich allerdings eine wichtige Spur und rufe mein Team zurück. Ein kleines Erfolgserlebnis! Und weiter gehts. Wir treffen neugierige Leute am Strand, freundliche, mal mehr oder weniger friedliche, betrunkene und einen gelangweilten deutschen 11 Jährigen, der fragt, was wir so machen und uns dann unauffällig folgt. Anfangs beantworte ich ihm noch all seine Fragen, aber ich merke irgendwann, dass es mich ablenkt und zugegeben auch nervt. “Ich muss mich hier eigentlich konzentrieren und kann mich nicht die ganze Zeit mit dir unterhalten.” Er hört mir zwar zu, ignoriert meine Aussage aber komplett und beginnt mir vom griechischen Immobilienmarkt für Ferienhäuser zu erzählen. Ich muss etwas direkter werden: "Ehrlich gesagt interessiert mich das nicht. Wie gesagt, ich muss hier weitermachen, aber wenn du magst, kannst du einfach mitlaufen und gucken was wir so machen.” Man kann mich unhöflich finden oder unnötig ehrlich, aber er nickte und begleitete mich dann noch begeistert über zwei Stunden, den kompletten Weg und wieder zurück, bis wir auf dem Rückweg an seinem Hotel vorbei kamen.

Wir haken jedes Nest auf unserem Weg ab, suchen weitere Spuren und werden früh fündig: eine hand voll kleine Kröten-Trecker-Spuren führen vom Nest weg, alle bis auf eine enden im Meer und diese letzte Spur führt zu einer kleinen Schildkröte, die kurz vorm Aufgeben scheint. Sie bewegt sich kaum, aber sie bewegt sich, ein paar Meter hat sie noch vor sich bis zum Ufer. Ziemlich weit, wenn man keine 7 Zentimeter groß ist. Die Spuren lassen außerdem vermuten, dass auch sie sich Anfangs verlaufen hat und schon eine ganze Weile unterwegs sein muss. Ein Fall fürs Vergraben? Zum Glück muss ich das gar nicht entscheiden, sondern der Teamleiter. Er ist sehr motiviert, die Schildkröte ins Wasser zu kriegen und gräbt eine Sandstraße. Ich stelle mich wieder so hin, dass die Kleine in meinem Schatten ist, aber sie bewegt sich kaum. Er klopft auf den Sandboden hinter ihr, um sie zu animieren. Sie schiebt sich ein paar Zentimeter nach vorne und macht wieder eine Pause. Die Sonne hat sie ausgetrocknet, der lange Weg ermüdet. Der Vorgang wiederholt sich mehrmals. Jedes Mal, wenn sie stehen bleibt, frage ich mich, ob es das war und jedes Mal, wenn sie weiterläuft, bin ich plötzlich ganz begeistert und glaube fest an sie. Nach einer halben Stunde werden die Pausen kürzer und die Wege, die sie zurücklegt, länger. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist sie dann kurz vor der Wasserkante. Sie hält nochmal inne und sieht sich etwas skeptisch um, bevor sie sich tapfer und tapsig vorwagt. Tierbabys sind einfach immer süß. Sie hat große schwarze Kulleraugen und auch ohne sie zu berühren, weiß ich, wie weich sie ist. Die erste Welle kommt und überspült sie unerwartet. Bei ihrem Rückgang bleibt die Schildkröte auf dem nassen Sand zurück. Der zweiten Welle kann sie dann schon etwas besser standhalten und lässt sich bei ihrem Sog mit ins Meer spülen. Da ist sie hin. One to Sea. So wird es im Notizbuch festgehalten, wenn wir ermitteln oder beobachten können, dass es eine kleine Schildkröte vom Nest ins Wasser geschafft hat. One to Sea. Ich finde, das klingt poetisch. 
Am Ende dieser Schicht ziehe ich wie magisch meine Kühlweste unter dem T-Shirt hervor (deren Wirkung nach 4 Stunden langsam aber sicher nachlässt) und werde unerwarteterweise nicht ausgelacht, sondern beneidet.

Zurück im Base Camp koche ich mir in der Außenküche ein ordentliches Omelett und schiebe mir einen Käsetoast mit Olivenpaste in den Panini-Maker. Der Kühlschrank bei uns ist immer voll, die Küche gut ausgestattet. Ein Mal am Tag wird für alle gekocht.

Den Abend verbringe ich dann im sogenannten Kiosk, der eigentlich ein Infostand ist. Diese Schichten sind besonders ulkig und hängen extrem davon ab, ob dein Partner/ deine Partnerin ein mürrischer Teenager ist, der hier ein Pflichtpraktikum absitzt oder eine angehende Meeresbilogoin, die endlich ein Publikum für ihr Nischenwissen gefunden hat.
Wie ich da so im Kiosk stehe, umgeben von Flyern und hinter einer Spendenbox, muss ich besonders stark an meine Eltern denken, die ihr halbes Leben kirchliche Missionare waren. Obwohl ich mich, wie keine andere in unserer Familie, öffentlich von der Kirche distanziert habe, lande ich doch auf eine Art und Weise immer wieder in ihren Fußstapfen. Dieses Gefühl, ist mir bei meinen Ukraine-Projekten auch schon mal widerfahren. Ich habe 2014 eine Organisation für internationale Theaterarbeit gegründet und bin 2016 mit meinem Ensemble in die Ostukraine gefahren, mit einem Sprinter, das Bühnenbild im Kofferraum. Wir waren eingeladen unser Ukrainisches-Deutsches Theaterstück bei einem Festival für Frieden zu zeigen und sammelten Spenden über betterplace.org um uns das zu ermöglichen. Wir drehten währenddessen einen kleinen Dokufilm und zeigten ihn auf unserer alljährlichen Weihnachtsfeier. Meine Eltern kamen nach dem Film grinsend auf mich zu und sagten: “Toll Lisa! Genau wie wir früher. Wir sind auch in einem Bus durch die Welt gereist, lebten von unserem Glauben und hatten keine geringeres Ziel als Weltfrieden.” Dieser Vergleich hat mich mindestens vor den Kopf gestoßen, wenn nicht ein wenig schockiert. Was ich damals nicht wollte und was ich auch heute nicht will, ist irgendjemand zu missionieren. Obgleich ich weiß, dass ich sehr überzeugend sein kann. Missionieren hat für mich immer den Beiklang von Manipulation. Ich war daher sehr erleichtert, als mir hier bei der Einweisung ganz klar gesagt wurde: “Wir informieren die, die informiert werden wollen, wir belästigen niemanden.” Ehrenamt, Geminnützig, Wohltätigkeit, Weltrettung, Weltfreiden.
Diese Gedanken beschäftigen mich auch noch im Bus zurück. Wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt, gibt es dann echte Wohltätigkeit im Kapitalismus? Worum geht es mir eigentlich? Ich wollte etwas sinnstifendes tun, doch was für mich Sinn ergibt, das entscheide ich am Ende auch selbst. Was an so einem langen, heißen Tag (und im Grunde immer) Sinn ergibt, ist ein Eis und ein Sonnenuntergang am Strand. One to Sea. 

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Heute ist ein Base Camp Tag. Ich habe kaum etwas zu tun und nach einer Woche ist es mal an der Zeit mein Zelt aufräumen. Ich habe überhaupt keine Ordnung. Angefangen mit meinem Koffer, den ich ja nicht sorgfältig gepackt habe, sondern panisch zusammengeschmissen. So langsam liegt die Wäsche auch getragen und staubig neben dem Koffer. Ich nehme alles raus, hole mir einen Wäschekorb aus dem Waschraum und weiche die Wäsche mit Handwaschmittel und Wasser ein. Ich schüttele meine senffarbene Decke aus, blase meine Isomatte wieder voll auf und fege mein Zelt. Im Laufe des Wäschewaschens werde ich richtig zen. Ich nehme jedes Teil einzeln in die Hand und spüre wie unterschiedlich sich textilien anfühlen, wenn sie nass werden. Mein Reisehandtuch ist ganz weich vom Wasser, mit dem es sich vollgesogen hat. Meine lange Leinenhosen fühlt sich etwas hölzern an. Mein langer leichter Kimono wird wahnsinnig schwer. Nahezu mein ganzer Kofferinhalt hängt bald an Wäscheleinen um mein Zelt herum. Stolz schaue ich auf mein Werk dieses Vormittags.

Mit einer blauen Liege vom Campingplatz und meinem roten Bikini aus dem Sale im Gesundbrunnencenter entspanne ich mich am Strand. Eine andere Volontärin schläft in der Sonne. Ich mache mir Sorgen, dass sie verbrennt und versuche sie sanft zu wecken. Sie lächelt höflich und bleibt in der Mittagssonne liegen. Nach einer Stunde, gesellt sie sich dann zu mir in den Schatten und eröffnet das Gespräch: “Danke fürs Bescheid sagen. Mir macht die Sonne wirklich nichts aus.” Und dann unterhalten wir uns: Darüber, dass sie in Nigeria und Catar aufgewachsen ist und sowieso alle vier Jahre umzog, weil es der Job ihres Vaters bedingte. Darüber, dass ich als Kind auch ständig umgezogen bin, wenn auch viele dieser Umzüge in Berlin waren und wenn es mal eine Weile ruhig war, dann bin ich im Haus meiner Eltern von einem Zimmer ins andere umgezogen. Sie sagt, dass sie auch ständig Bewegung um sich braucht. Entweder ist sie viel unterwegs oder sie stellt alle paar Wochen ihre Möbel um. Das kenne ich sehr gut, ich bin auch jetzt noch immer wieder dabei Möbelstücke auszutauschen und mein Zimmer zu optimieren. Aber seitdem ich mit Anna zusammenwohne habe ich einen anderen Blick auf Inneneinrichtung. Anna mit ihren indirekten Lichtquellen, ihren Holzmöbeln und ihren unzähligen, wunderschönen Zimmerpflanzen. Für eine Wohngemeinschaft ist unser zu Hause sehr kohärent eingerichtet. Aber große Veränderungen hat es in meinem Zimmer seit ein paar Jahren nicht mehr gegeben. Zuletzt habe ich ein selbstgebautes Hängeregal wieder von der Wand genommen, als ich eingesehen habe, dass es zu instabil ist, um der Aufgabe eines Regals gerecht zuwerden. Ansonsten hat bei mir alles seinen Platz und ich komme immer gerne nach Hause.  

Weibliche Meeresschildkröten kehren immer wieder zurück an den Strand ihrer Geburt, um dort ihre Eier abzulegen. Und etwas daran finde ich berührend und poetisch. Sie orientieren sich dafür am magnetischen Feld der Erde.  Noch ein Grund, warum man Babyschildkröten nicht aufheben darf, um ihnen vom Nest ins Wasser zu helfen. Sie brauchen den Weg, um sich fünfzehn bis zwanzig Jahre später (wenn sie das fortpflanzungsfähige  Alter erreicht haben) orientieren zu können. 
Der Einfluss der Menschen auf die Natur hat Konsequenzen für diese beharrliche Schildkröten-Tradition. Sie werden auf jeden Fall ganz genau dort nisten wollen, wo sie geboren sind auch wenn mittlerweile ein Beachvolleyballfeld daraus entstanden ist. Vor allem auch dann, wenn der Strand nicht mehr vorhanden ist, weil er mit einem schicken Beach-View-Hotel zugebaut wurde oder der ansteigende Meeresspiegel dafür sorgt, dass der Strand schmaler wird.  Ich war mein ganzes Leben lang nie wieder an dem Ort meiner Geburt. Das wäre allerdings auch kein pitoresker, griechischer Sandstrand, sondern das Landesklinikum Neunkirchen in Niederösterreich. Ich bezweifle dass sich ein Ausflug lohnen würde. 


Schlüpfling auf dem Weg ins Wasser