Tag 8 bis 10
Der heutige Tag beginnt mit einem sogenannten Strandspaziergang. Das ist anders als die übrigen Frühschichten am Strand, weil es hierbei darum geht, interessierte Touristen (die sich dafür angemeldet haben) über einen kurzen Strandabschnitt zu führen
So wie jetzt bei diesem Strandspaziergang mit einer kleinen Gruppe Englischer und Dänischer Paare, alles Erwachsene und dann noch ein vierjähriges Mädchen. Für so kleine Schritte ist es dann doch weit. Die Mutter nimmt sie immer wieder auf den Arm, um sie zu tragen, bis es zu anstrengend für sie wird und das Mädchen wieder selber laufen muss. Ich begleite die beiden Nachzüglerinnen immer wieder, wenn der Rest der Gruppe zu schnell vorankommt. “Ich kann dich nicht mehr tragen, du musst selber laufen. Ja, ich weiß, ich bin eine schlechte Mutter.” Sie sagt es irgendwie scherzhaft aber sie ist auch zu müde, für ihren eigenen Humor. Wenn Kinder unzufrieden sind, dann reagieren ihre Mütter (soweit ich das beobachten kann) oft mit Scham. Ich will der Frau gerne sagen: “Du bist bestimmt eine großartige Mutter, sei nicht so hart zu dir. Ich mein du bist hier! Wo ist denn der Vater? Der könnte sie ja auch mal tragen. Und überhaupt, sie wirkt gesund, sie hat geflochtene Haare, ein sauberes Kleid an, ihr macht Urlaub zusammen, das kostet so viel Zeit und Energie, da kann man doch schon stolz drauf sein.” Aber dafür stehen wir uns natürlich nicht ansatzweise nah genug, also erzähle ich ihr etwas über Schildkröten.
Schildkrötenmütter bauen pro Saison ca 4 Nester, in die sie ihre schätzungsweise 100 Eier legen und dann gehen sie zurück ins Meer und kehren erst 3 Jahre später wieder zurück an denselben Strand, um weitere Eier zu legen. Die Eier schlüpfen selbstständig nach etwa zwei Monaten, dann krabbeln die Babys ins Meer und versorgen sich ihr ganzes Leben lang selbst. Das wars. Kein Brüten, kein Füttern, keine Bindung. Auf Deutsch gibt es den Ausdruck “Rabenmutter” oder “Rabenvater” für ein Elternteil, dass den eigenen Nachwuchs vernachlässigt, dabei sind Raben (im Gegensatz zu Schildkröten) sehr fürsorgliche Eltern, inklusive Nestwärme und Kükenfütterung, das ganze Programm.
Immer wieder kommt von Touristinnen und Touristen die eine Frage, deren Antwort ein bisschen frustrierend ist. Wie viele Schildkröten schaffen es? Die Teamleiterin dieses Strandspaziergangs antwortet: “Genau wissen wir das gar nicht aber Schätzungen liegen bei 1 zu 1000. Das bedeutet, dass 1 von 1000 das fortpflanzungsfähige Alter von 15 bis 20 Jahren erreicht.”
Da werde ich aber stutzig. Das heißt, eine 10 Jahre alte Schildkröte zählt nicht? Ich finde schon. Ich würde nicht sagen, dass ihr Leben sinnlos war, nur weil sie sich nicht fortgepflanzt hat. Biologisch stimmt das wahrscheinlich, da bin ich jetzt keine Expertin. Aber so gesellschaftlich gesehen, hat sie sicher einen Teil beigetragen. Sie kann ja auch ohne Nachwuchs eine große Inspiration für andere gewesen sein. Andere Schildkröten oder Fische. Inspiration wofür? Gute Frage. Schildkröten sind soweit ich weiß ziemliche Einzelgänger:innen. Nicht so wie Delphine, die sich zusammen Spiele ausdenken. Oder Wale, die zusammen singen und diese Lieder auch an andere Walschulen weitergeben. So entstehen unter Walen sogar richtige Hits. Aber wer weiß, eines dieser Lieder handelt vielleicht von einer geheimnisvollen, jungen Schildkröte, die an den Walen vorbeigeschwommen ist. Und so wurde sie zum Wal-Hit, ohne dass sie es weiß.
In diesem Volontariat gibt es Schichten und Aufgaben, die sich wie folgt unterscheiden: Schichten, wie zum Beispiel die am Strand sind zeitlich und örtlich festgelegt, Aufgaben sind flexibler, auch wenn sie wie Schichten im Plan eingetragen sind. Der Tag ist morgens, mittags, abends unterteilt und mindestens ein Teil des Tages ist immer frei. So hatte ich heute morgen die Schicht beim Strandspaziergang und dann noch irgendwann mittags die Aufgabe, die Bambuszäune zu reparieren, die um die Nester herum gebaut werden. Sie werden entweder ins Camp zurückgebracht, weil das Nest fertig ist (also keine Eier mehr schlüpfen und das Nest demnach von uns zu Forschungszwecken ausgegraben wurde) oder weil sie so kaputt waren, dass sie ausgetauscht werden mussten. In jedem Fall, landen die Zäune, aus recycleten Strandmatten und Bambus, zur Überprüfung im Base Camp. Muss ein Teil ausgetauscht werden? Ausgebessert? Neu befestigt? Keine unwichtige Tätigkeit, aber für mich ist es auch einfach eine gemütliche Bastelstunde, in kleiner Runde unter freiem Himmel. Das Gesprächsthema ist der menschengemachte Klimawandel und driftet schnell ins Absurde ab: Bei Reptilien entsteht das Geschlecht temperaturabhängig, je wärmer es ist, desto mehr Schildkröten werden Weibchen, die kälteren Eier werden Männchen. Die Erderwärmung führt dazu, dass die Anzahl der männlichen Schildkröten abnimmt. Wie wäre das wohl für die letzte Generation Schildkröten-Weibchen? Wenn sie den ganzen Stress mit der Reise zum Geburtststrand, dem anstrengenden Nest buddeln, das Eier legen nicht mehr machen müssen? Machen sie Party? Fangen sie an zu studieren? Chillen sie einfach?
Ich liege in der Hängematte und lese, da gibt mein Handy plötzlich ein beunruhigend lautes Signal von sich und auf meinem Bildschirm erscheint eine lange Nachricht auf griechisch, die ich intuitiv wegdrücke. Ich öffne meine SMS-Nachrichten aber ich habe keine erhalten. Hoffentlich hab ich mir nicht irgendwie einen Virus eingefangen. Oder ist was passiert? Ich schaue mich um, aber niemand im Camp reagiert. Das Signal erinnert mich an die Testsignale die vor ein paar Monaten an alle Mobiltelefone in Deutschland verschickt wurden. Ein Frühwarnsystem, ich glaube, als Reaktion auf die Überflutung im Ahrtal. Bei solchen Signalen muss ich sofort an meine Ukrainischen Freundinnen und Freunde denken. An die, die immer noch im Land leben, auch wenn sie von Kahrkiv im Osten zumindest nach Kiev gezogen sind. Die, für die das Sirenengeräusch Alltag geworden ist. Die sich an die permanente Bedrohung gewöhnt haben, soweit das überhaupt jemals möglich ist. Aber ich denke auch an die, die mittlerweile in Berlin leben und die ich bei Signalen dieser Art schon häufiger zusammenzucken sah. Auch wenn sie teilweise nur wenige Wochen nach dem Russischen Angriff geflohen sind und auch wenn sie seit fast zwei Jahren in Deutschland leben, sind sie eben kriegstraumatisiert. Ich war im Januar 2022 in Kharkiv, wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ich habe ein Stipendium für einen einmonatigen Auslandsaufenthalt an der University of Arts bekommen und wollte von Ende Dezember bis Mitte Februar dort bleiben. Schon beim Losfahren rieten mir einige Bekannte und Freundinnen ab, da es so aussah, als braute sich da etwas zusammen. Ich habe das nicht wirklich ernst genommen, schließlich riet man mir vor meinem ersten Besuch im Herbst 2014 (als Russland die Krim annektierte und damit der Krieg begann) ebenfalls davon ab und diese Reise bereute ich nie. Im Gegenteil. Ich fuhr also Ende Dezember 2021 mit dem Zug über Polen nach Kiev und nahm dort, wie so oft, den gemütlichen Nachtzug nach Kharkiv. Mein Freund Tino begleitete mich. Wir wurden freudestrahlend am Bahnhof abgeholt und wir feierten Silvester mit unseren Freund:innen. Ende Januar wurde dann in westlichen Medien deutlich, dass sich die Situation zuspitzt, während in Kharkiv selbst davon keine Spur war. Es fiel mir schwer mir vor zu stellen, dass uns Gefahr drohen könnte, aber Tino drängt, dass wir frühzeitig zurück fahren sollten. Am nächsten Tag entschieden wir dann, dass wir noch das Wochenende bleiben würden und Montag den Heimweg per Zug antreten. Unsere Ukrainischen Freund:innen konnten unsere Entscheidung nicht verstehen und wollten sich uns auch nicht anschließen. Die Situation der russischen Soldaten, die sich an den Grenzen positionierten war bedrohlich genug, um eine Woche früher als geplant ab zu reisen. Aber hätte ich in ihrer Situation mein Leben zusammengepackt und wäre ins Ungewisse geflohen? Sicher nicht.
Wir sagten ihnen noch, dass sie jederzeit nach Berlin kommen könnten. Ich habe noch Tinos Stimme im Ohr, der in die Runde sagt: “If you are not sure, just make a little safety holiday in Germany and see if the situation cools down” Einige von ihnen haben dieses Angebot nur wenige Wochen und Monate darauf auch angenommen.
Zurück in Griechenland 2024 weiß ich jetzt, was das Signal auf meinem Handy bedeutet: Ein Waldbrand, 50 Kilometer von hier. Ich lese in der Whatsappgruppe, dass aktuell keine Gefahr für uns besteht. Trotzdem beunruhigend, wenn die Militärhubschrauber zum Löschen laut und dicht über uns hinwegziehen.
︎︎︎
Jeden Morgen öffne ich meine Zelttür und wenn die drei Esel dann nicht schon da sind dann kommen sie, sobald sie mich sehen, denn ich habe immer einen kleinen Snack für sie . Meistens trockene Bambusspitzen. Und jeden Tag muss ich einsehen, dass sie nicht so interessiert an meinen Streicheleinheiten sind, wie an meinen Snacks.
Der heutige Tag beginnt mit einer Strandschicht. Einer richtigen.
Ich kenne den Abschnitt, ich weiß dass wir 40 Minuten zum Ausgangspunkt laufen, ich habe heute sogar schon Zähne geputzt, ich fühle mich sehr professionell bei allem.
Der Weg führt an der breiten Marmortreppe eines Hotels vorbei, deren Glanz und indirektes Licht ich jedes Mal bewundere. Drei Damen um die 40 in weißen T-Shirts und beigefarbene langen Hosen, putzen und wischen die Treppe und polieren das Geländer. Drei Personen für eine Treppe.
Heute nehme ich mal das andere Buch an mich. Nicht das mit den Gefahren, sondern das Hauptbuch, in dem die Nester notieret sind, die wir überprüfen sollen und in dem alle Schlüpflinge (One to Sea) notiert werden. Obwohl ich mich weniger hetzen muss, habe ich das Gefühl, dass wir schneller vorankommen. Wir haben aber auch einiges vor: eine Ausgrabung!
Schildkrötenbabys schlüpfen in Grüppchen. Würden alle auf einmal schlüpfen, gäbe es bei ca. 100 Eiern pro Nest ordentlich Gedränge auf dem Weg an die Oberfläche. Würden sie einzeln schlüpfen, wäre die Überlebenschance gering, da sie von Vögeln einfach weggeschnappt würden. Bei zwanzig ist die Chance hoch, dass es ein paar ins Wasser schaffen, selbst wenn Angreifer draußen lauern sollten. Die Eier, die im Nest ganz ganz oben sind, schlüpfen zuerst und die Vibration ist das Signal für die nächste Gruppe. Sie schlüpfen im Abstand von ein paar Tagen. Wenn absehbar ist, dass keine weiteren mehr schlüpfen werden, werden die Nester ausgegraben und alles zu Forschungszwecken notiert: wie viele Eier sind es insgesamt? Wie viele sind geschlüpft, wie viele nicht? Die ungeschlüpften werden geöffnet: Ist ein Embryo sichtbar? In welchem Stadium hat er aufgehört sich zu entwickeln? Gibt es eine Verfärbung, die auf bestimmte Bakterien hindeutet?
Und genau das machen wir jetzt auch. Genau genommen, macht das mein Team. Die drei 20jährigen Studentinnen, ziehen sich schwarze Handschuhe an, graben einen halben Meter in den Sand, sortieren und öffnen die Eier ohne mit der Wimper zu zucken. Ich sitze auf Abstand und notiere alles, was mir zugerufen wird: middle, late, pink, novis, pip dead. Eine einzige Konfrontationstherapie für mich, die Angst vor toten Tieren hat. Der Geruch ist außerdem genau so, wie man sich den Geruch von alten Eiern vorstellt. Es sind ungewöhnlich viele geschlossene Eier, deswegen dauert diese Ausgrabung auch lang. Dabei sehe ich wirklich jedes Stadium, in dem aus einem Ei eine Schildkröte wird. Angefangen von zwei Augen, die sich aus der weißlichen Masse im Ei hervortun. Dann mal ein Kopf, bis hin zu einer komplett entwickelten kleinen Kröte, die (ohne das romantisieren zu wollen) aussieht, als würde sie schlafen. Ich bin neugierig und überrascht von mir selbst. Ich hab sogar das Gefühl, dass die detaillierte Auseinandersetzung (auf Abstand sitzen und die Luft anhaltend aber immerhin dabei) mir helfen könnte, meine Angst vor toten Tieren zu überwinden. Aber ob ich mal so viel Eier hab wie die jungen Frauen, die so abgeklärt ein Ei nach dem anderen öffnen und deren souverän gerufene Codewords ich entgegen nehme, bezweifle ich.
Für später steht bei mir Brainstorming auf dem Plan. Keine Ahnung, was das sein soll. Zuerst sind wir beide, die zu dieser Aufgabe eingeteilt wurden, ein wenig ratlos, doch da kommt die dritte Person, die uns komplementiert und weiß was zu tun ist. Es geht darum zu überlegen, wie man das Zusammenleben im Camp besser, witziger, interaktiver gestalten kann. Zum Beispiel mit Secret-Friends-Losen, einer Fotochallenge als Aushang in der Küche (1. mach ein Foto mit einem Touristen! 5. mach ein Selfie mit jemandem, der telefoniert) oder einem Slideshow-Abend, zu dem alle Babyfotos beisteuern und dann wird geraten. Ich sperre mich zuerst innerlich gegen diese Aufgabe. Ich habe zu viel Zeit meines Lebens als unterbezahlte Jugendreiseleiterin verbracht. Wir müssen das aber auch nicht selbst umsetzen, es geht einfach darum, Ideen zu sammeln. Ich lasse mich vom Enthusiasmus der anderen mitreißen und wir schreiben unsere Ideen auf (Schatzsuche, Karaokeabend, Kennenlernspiele für den Essenstisch, Slideshow-Abend mit kurzen Geschichten anstelle von Babyfotos) und ich hab Feierabend für heute.
Morgen habe ich sogar einen freien Tag, wie schön! Zuerst bin ich ehrlich gesagt mit meinem freien Tag auch ein bisschen überfordert. Für mich ist es vor allem schön heute mal einen freien Nachmittag zu haben, an dem ich weiß dass ich am nächsten Tag nicht früh aufstehen muss oder auch verkatert sein kann. Das koste ich auch voll und ganz aus! Mit Anna und ihrem Sohn vertrödelte ich den halben Nachmittag und fahre dann zu einem anderen kleinen Strand, den wir noch nicht kennen. Zusammen überlegen wir auch was wir morgen machen wollen, vielleicht ein Ausflug auf eine andere Insel? Zu einem weiter entfernten Strand? Oder auch in den südlichen Teil von Kreta? Wobei, wie ist es eigentlich mit dem Waldbrand. In dem Moment fliegt wieder ein riesiger Militärhubschrauber über unsere Köpfe hinweg, der einen Löscheimer hinter sich her zieht. Später dann die Entwarnung: der Brand ist gelöscht. Was machen wir also morgen? Auf keinen Fall eine Touri-Tour bei der man einen durchgetakteten Tagesplan hat, zwei Stunden hier, zwei Stunden dort und dann hält man an einer mittelmäßigen Taverne und einem überteuerten Souvenirladen. Ohne diese Touren, ist es allerdings ziemlich schwer einen Plan zu machen, weil Google Maps einen konstant in die Irre führt. Seit meiner Ankunft (bei der es ja doppelt so lange gedauert hat, wie angezeigt) traue ich dem sowieso nicht mehr. Ein paar andere aus dem Camp, die ihren freien Tag zeitgleich mit mir haben, haben mich auch schon sehr freundlich eingeladen, mich ihnen anzuschließen. Sie wollen ein Auto mieten, und damit zu einem Wasserfall fahren. Das klingt eigentlich sehr schön, aber ich merke einen leichten Lagerkoller und will dem direkt entgegen wirken. Es ist aufregend aber auch anstrengend plötzlich mit 40 Fremden zusammen zu wohnen.
︎︎︎
Mein freier Tag beginnt, wie es sich für so einen freien Tag gehört, mit Ausschlafen. Bis 9:00 Uhr, dann merke ich, wie auch in meinem Dunkel-Zeit die Hitze langsam zunimmt, dazu werden die Zikaden immer lauter und das Ausschlafen ist damit vorbei. Mit dem Geräusch des Reißverschlussöffnens werden meine drei Freunde auf der Weide schon spitz und treten an den Zaun heran, um sich ihrem täglichen kleinen Snack abzuholen und ich erschleiche mir ihre weichen Nüstern. In der WhatsApp-Gruppe zu unseren Strand-Routinen taucht ein Video auf und ich denke, ich seh nicht richtig: ein Video eines Schildkrötenbabys mit zwei Köpfen. Ich wusste überhaupt nicht, dass das möglich ist. Ich finde es sowohl gruselig als auch irgendwie cool. Vor allem weil es die doppelköpfige Schildkröte ins Wasser geschafft hat. Bei einer gestrigen Ausgrabung, bei der ich nicht war, kamen auch einige Albino-Schildkröten zum Vorschein. Spanennd.
Ich mache mir dann einen Bröselkaffee und schlendere rüber zu Anna. Weil wir weder mit der Broschüre noch mit Google Maps weiterkommen, fragen wir in der Taverne, wie weit es denn mit dem Bus in die nächste Stadt ist. Anders als Google Maps sagt uns der Mann in der Taverne, es dauert circa eine Stunde. Na das klingt doch machbar! Zuerst beschließen wir, in einer Stunde loszugehen. Nach einer Stunde beschließen wir dann eine halbe Stunde später los zu gehen, und irgendwann, circa zweieinhalb Stunden später, sind wir dann auf dem Weg. Die Busse auf Kreta.. das ist so eine Sache. Sie fahren regelmäßig aber man weiß eigentlich nie so wirklich wann. Im Endeffekt sollte man viel Zeit einplanen, sich einfach an die Bushaltestelle stellen und warten. Anna holt mir eine kalte Flasche Magarita aus dem Supermarkt, mittlerweile ist es 15:30 (wie auch immer das eigentlich passiert ist! Die Zeit verfliegt komplett und ich hab fast nichts gegessen bis auf einen Wassermelonen-Feta-Salat), da kann man schon mal seinen ersten Cocktail trinken. Aber natürlich, drei Minuten nachdem ich die Flasche geöffnet und wir alle angestoßen haben, sehen wir den Bus. Ich kippe meinen Cocktail hinunter, um dann vom Busfahrer stehen gelassen zu werden. Der Bus ist überfüllt und fährt einfach an uns vorbei. Gestern hatten wir Glück und es kam nur wenige Minuten später der nächste, bequemer, leerer und klimatisiert aber heute stehen wir noch eine ganze Weile an der Bushaltestelle, die wie eine Geister-Stadt Kulisse aus einem Wild West Film erinnert.
In der Stadt müssen wir umsteigen und warten eine gute halbe Stunde. Wir setzen uns dafür auf eine kleine private Treppe mit toller Aussicht und veranstalten ein Picknick.
Es ist schön und trotzdem überkommt mich ein ungutes Gefühl, als ich in den Bus nach Chania steige. Jetzt so weit weg vom Camp, ohne zu wissen wann und wie ich wieder zurück komme, heute Abend gibt es die Slide-Show-Night, die ich verpassen werde, überhaupt wäre das doch ein guter Tag gewesen, um mehr mit den anderen im Camp zu bonden. Hätte ich mich allein deswegen, den anderen Mädels anschließen sollen? Das Schöne an diesen Projekten ist doch auch, dass man dabei Freundschaften schließt, mit Menschen aus aller Welt und ich lasse mir das entgehen. Gestern Abend auf dem Weg nach Hause kam mir ein Mädchen entgegen, die sich mit ein paar anderen auf den Weg zum Club machte und ich war natürlich herzlich eingeladen, mich anzuschließen, aber ich war wirklich viel zu müde, trotzdem bekam ich FOMO (fear of missing out). In Berlin verpasse ich sowieso immer irgendwas, das hat die Stadt so an sich. Das beunruhigt mich aber nicht, weil ich genau weiß, dass ich jederzeit alles machen kann, egal ob feiern an einem Dienstag oder Essen gehen um Mitternacht. Alles ist immer verfügbar und für alles findet sich Gesellschaft. Doch wer weiß wie das hier ist. Als mich die freundliche Französin mit den langen braunen Haaren also fragte, ob ich mit in den Club kommen will, während sie sich am Waschbecken neben mir schminkte und ich mir schon die Zähne putze, war ich versucht mich anzuschließen aber ich ließ die Gelegenheit letztlich vorbei ziehen. Diesmal. Und genauso ließ ich den Ausflug an den Wasserfall mit den anderen vorbei ziehen und genau so lasse ich auch jetzt die Unsicherheit über all das am Busbahnhof zurück und genieße die Aussicht auf die Küste, an der wir entlang fahren.
Strände, Schluchten, Flüsse, heruntergekommene Buden, Baustellen und luxuriös wirkende Neubauprojekte. Sauber angelegte Grasflächen, die entweder an einem Grundstücks-Zaun enden oder eine gerade Grenze zum Staub bilden. Ein paar hundert Meter gibt es dann wieder üppige grüne Felder und saftige Bäume und Büsche entlang der Straßen.
Vor zehn Tagen saß ich in einem ganz ähnlichen Bus, fuhr entlang der Küste, war erschöpft, alleine und fuhr durch die Dunkelheit. Hier und heute spiegelt die Sonne mein Gemüt. Das war nur das erste Drittel meiner Zeit hier, ich werde noch so viel Gelegenheit für alles haben. Auch wenn die Stunden manchmal verfliegen, tun es die Tage noch nicht.
Die kleine Hafenstadt Chania ist wunderschön! Osmanische und venezianische Architektur, bunt bemalte Gebäude, alles sieht ein bisschen aus wie eine Wes Anderson Filmkulisse. Die Menschen die auf einem Balkon Wein trinken, wirken wie Statisten. Wir sind auf Anhieb entzückt! Ein bisschen erinnert mich alles an Camogli in Italien, wo ich mit meiner Schwester Heidi dieses Jahr war. Blaue Fenster, grüne Türen und Fensterläden. Zwischendurch ganz schmale Häuschen, nur zwei Fenster breit, alles in Pastell und abgerundet durch eine alte, lehmfarbene Stadtmauer. Mit zunehmender Stunde wird der Hafen noch unwirklicher. Ein Springbrunnen, Straßenmusik, eine altmodische Kutsche, ein Mann mit einer riesigen Traube aus Heliumballons und dahinter der Turm am Horizont über dem Wasser im Sonnenuntergangs-Lilapink wie das Disneyschloss. Traumhaft. Nach einem Frozen Yoghurt wird es aber Zeit, den Rückweg anzutreten und ich werde nervös. Auch mit dem angestrebten Bus werde ich recht spät zurück im Camp sein, jetzt hat er schon sechs Minuten Verspätung und morgen ist wieder eine frühe Strandschicht an einem unbekannten Abschnitt (von dem ich schon gehört hab, dass dort gerade einiges los sein soll). Meine Gedanken werden von der Ankunft des Reisebusses unterbrochen.
Auf den Weichen sitzen schließe ich schon mal für einen Moment meine Augen und lass mich durch die Nacht schunkeln.
Der heutige Tag beginnt mit einem sogenannten Strandspaziergang. Das ist anders als die übrigen Frühschichten am Strand, weil es hierbei darum geht, interessierte Touristen (die sich dafür angemeldet haben) über einen kurzen Strandabschnitt zu führen
So wie jetzt bei diesem Strandspaziergang mit einer kleinen Gruppe Englischer und Dänischer Paare, alles Erwachsene und dann noch ein vierjähriges Mädchen. Für so kleine Schritte ist es dann doch weit. Die Mutter nimmt sie immer wieder auf den Arm, um sie zu tragen, bis es zu anstrengend für sie wird und das Mädchen wieder selber laufen muss. Ich begleite die beiden Nachzüglerinnen immer wieder, wenn der Rest der Gruppe zu schnell vorankommt. “Ich kann dich nicht mehr tragen, du musst selber laufen. Ja, ich weiß, ich bin eine schlechte Mutter.” Sie sagt es irgendwie scherzhaft aber sie ist auch zu müde, für ihren eigenen Humor. Wenn Kinder unzufrieden sind, dann reagieren ihre Mütter (soweit ich das beobachten kann) oft mit Scham. Ich will der Frau gerne sagen: “Du bist bestimmt eine großartige Mutter, sei nicht so hart zu dir. Ich mein du bist hier! Wo ist denn der Vater? Der könnte sie ja auch mal tragen. Und überhaupt, sie wirkt gesund, sie hat geflochtene Haare, ein sauberes Kleid an, ihr macht Urlaub zusammen, das kostet so viel Zeit und Energie, da kann man doch schon stolz drauf sein.” Aber dafür stehen wir uns natürlich nicht ansatzweise nah genug, also erzähle ich ihr etwas über Schildkröten.
Schildkrötenmütter bauen pro Saison ca 4 Nester, in die sie ihre schätzungsweise 100 Eier legen und dann gehen sie zurück ins Meer und kehren erst 3 Jahre später wieder zurück an denselben Strand, um weitere Eier zu legen. Die Eier schlüpfen selbstständig nach etwa zwei Monaten, dann krabbeln die Babys ins Meer und versorgen sich ihr ganzes Leben lang selbst. Das wars. Kein Brüten, kein Füttern, keine Bindung. Auf Deutsch gibt es den Ausdruck “Rabenmutter” oder “Rabenvater” für ein Elternteil, dass den eigenen Nachwuchs vernachlässigt, dabei sind Raben (im Gegensatz zu Schildkröten) sehr fürsorgliche Eltern, inklusive Nestwärme und Kükenfütterung, das ganze Programm.
Immer wieder kommt von Touristinnen und Touristen die eine Frage, deren Antwort ein bisschen frustrierend ist. Wie viele Schildkröten schaffen es? Die Teamleiterin dieses Strandspaziergangs antwortet: “Genau wissen wir das gar nicht aber Schätzungen liegen bei 1 zu 1000. Das bedeutet, dass 1 von 1000 das fortpflanzungsfähige Alter von 15 bis 20 Jahren erreicht.”
Da werde ich aber stutzig. Das heißt, eine 10 Jahre alte Schildkröte zählt nicht? Ich finde schon. Ich würde nicht sagen, dass ihr Leben sinnlos war, nur weil sie sich nicht fortgepflanzt hat. Biologisch stimmt das wahrscheinlich, da bin ich jetzt keine Expertin. Aber so gesellschaftlich gesehen, hat sie sicher einen Teil beigetragen. Sie kann ja auch ohne Nachwuchs eine große Inspiration für andere gewesen sein. Andere Schildkröten oder Fische. Inspiration wofür? Gute Frage. Schildkröten sind soweit ich weiß ziemliche Einzelgänger:innen. Nicht so wie Delphine, die sich zusammen Spiele ausdenken. Oder Wale, die zusammen singen und diese Lieder auch an andere Walschulen weitergeben. So entstehen unter Walen sogar richtige Hits. Aber wer weiß, eines dieser Lieder handelt vielleicht von einer geheimnisvollen, jungen Schildkröte, die an den Walen vorbeigeschwommen ist. Und so wurde sie zum Wal-Hit, ohne dass sie es weiß.
In diesem Volontariat gibt es Schichten und Aufgaben, die sich wie folgt unterscheiden: Schichten, wie zum Beispiel die am Strand sind zeitlich und örtlich festgelegt, Aufgaben sind flexibler, auch wenn sie wie Schichten im Plan eingetragen sind. Der Tag ist morgens, mittags, abends unterteilt und mindestens ein Teil des Tages ist immer frei. So hatte ich heute morgen die Schicht beim Strandspaziergang und dann noch irgendwann mittags die Aufgabe, die Bambuszäune zu reparieren, die um die Nester herum gebaut werden. Sie werden entweder ins Camp zurückgebracht, weil das Nest fertig ist (also keine Eier mehr schlüpfen und das Nest demnach von uns zu Forschungszwecken ausgegraben wurde) oder weil sie so kaputt waren, dass sie ausgetauscht werden mussten. In jedem Fall, landen die Zäune, aus recycleten Strandmatten und Bambus, zur Überprüfung im Base Camp. Muss ein Teil ausgetauscht werden? Ausgebessert? Neu befestigt? Keine unwichtige Tätigkeit, aber für mich ist es auch einfach eine gemütliche Bastelstunde, in kleiner Runde unter freiem Himmel. Das Gesprächsthema ist der menschengemachte Klimawandel und driftet schnell ins Absurde ab: Bei Reptilien entsteht das Geschlecht temperaturabhängig, je wärmer es ist, desto mehr Schildkröten werden Weibchen, die kälteren Eier werden Männchen. Die Erderwärmung führt dazu, dass die Anzahl der männlichen Schildkröten abnimmt. Wie wäre das wohl für die letzte Generation Schildkröten-Weibchen? Wenn sie den ganzen Stress mit der Reise zum Geburtststrand, dem anstrengenden Nest buddeln, das Eier legen nicht mehr machen müssen? Machen sie Party? Fangen sie an zu studieren? Chillen sie einfach?
Ich liege in der Hängematte und lese, da gibt mein Handy plötzlich ein beunruhigend lautes Signal von sich und auf meinem Bildschirm erscheint eine lange Nachricht auf griechisch, die ich intuitiv wegdrücke. Ich öffne meine SMS-Nachrichten aber ich habe keine erhalten. Hoffentlich hab ich mir nicht irgendwie einen Virus eingefangen. Oder ist was passiert? Ich schaue mich um, aber niemand im Camp reagiert. Das Signal erinnert mich an die Testsignale die vor ein paar Monaten an alle Mobiltelefone in Deutschland verschickt wurden. Ein Frühwarnsystem, ich glaube, als Reaktion auf die Überflutung im Ahrtal. Bei solchen Signalen muss ich sofort an meine Ukrainischen Freundinnen und Freunde denken. An die, die immer noch im Land leben, auch wenn sie von Kahrkiv im Osten zumindest nach Kiev gezogen sind. Die, für die das Sirenengeräusch Alltag geworden ist. Die sich an die permanente Bedrohung gewöhnt haben, soweit das überhaupt jemals möglich ist. Aber ich denke auch an die, die mittlerweile in Berlin leben und die ich bei Signalen dieser Art schon häufiger zusammenzucken sah. Auch wenn sie teilweise nur wenige Wochen nach dem Russischen Angriff geflohen sind und auch wenn sie seit fast zwei Jahren in Deutschland leben, sind sie eben kriegstraumatisiert. Ich war im Januar 2022 in Kharkiv, wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ich habe ein Stipendium für einen einmonatigen Auslandsaufenthalt an der University of Arts bekommen und wollte von Ende Dezember bis Mitte Februar dort bleiben. Schon beim Losfahren rieten mir einige Bekannte und Freundinnen ab, da es so aussah, als braute sich da etwas zusammen. Ich habe das nicht wirklich ernst genommen, schließlich riet man mir vor meinem ersten Besuch im Herbst 2014 (als Russland die Krim annektierte und damit der Krieg begann) ebenfalls davon ab und diese Reise bereute ich nie. Im Gegenteil. Ich fuhr also Ende Dezember 2021 mit dem Zug über Polen nach Kiev und nahm dort, wie so oft, den gemütlichen Nachtzug nach Kharkiv. Mein Freund Tino begleitete mich. Wir wurden freudestrahlend am Bahnhof abgeholt und wir feierten Silvester mit unseren Freund:innen. Ende Januar wurde dann in westlichen Medien deutlich, dass sich die Situation zuspitzt, während in Kharkiv selbst davon keine Spur war. Es fiel mir schwer mir vor zu stellen, dass uns Gefahr drohen könnte, aber Tino drängt, dass wir frühzeitig zurück fahren sollten. Am nächsten Tag entschieden wir dann, dass wir noch das Wochenende bleiben würden und Montag den Heimweg per Zug antreten. Unsere Ukrainischen Freund:innen konnten unsere Entscheidung nicht verstehen und wollten sich uns auch nicht anschließen. Die Situation der russischen Soldaten, die sich an den Grenzen positionierten war bedrohlich genug, um eine Woche früher als geplant ab zu reisen. Aber hätte ich in ihrer Situation mein Leben zusammengepackt und wäre ins Ungewisse geflohen? Sicher nicht.
Wir sagten ihnen noch, dass sie jederzeit nach Berlin kommen könnten. Ich habe noch Tinos Stimme im Ohr, der in die Runde sagt: “If you are not sure, just make a little safety holiday in Germany and see if the situation cools down” Einige von ihnen haben dieses Angebot nur wenige Wochen und Monate darauf auch angenommen.
Zurück in Griechenland 2024 weiß ich jetzt, was das Signal auf meinem Handy bedeutet: Ein Waldbrand, 50 Kilometer von hier. Ich lese in der Whatsappgruppe, dass aktuell keine Gefahr für uns besteht. Trotzdem beunruhigend, wenn die Militärhubschrauber zum Löschen laut und dicht über uns hinwegziehen.
︎︎︎
Jeden Morgen öffne ich meine Zelttür und wenn die drei Esel dann nicht schon da sind dann kommen sie, sobald sie mich sehen, denn ich habe immer einen kleinen Snack für sie . Meistens trockene Bambusspitzen. Und jeden Tag muss ich einsehen, dass sie nicht so interessiert an meinen Streicheleinheiten sind, wie an meinen Snacks.
Der heutige Tag beginnt mit einer Strandschicht. Einer richtigen.
Ich kenne den Abschnitt, ich weiß dass wir 40 Minuten zum Ausgangspunkt laufen, ich habe heute sogar schon Zähne geputzt, ich fühle mich sehr professionell bei allem.
Der Weg führt an der breiten Marmortreppe eines Hotels vorbei, deren Glanz und indirektes Licht ich jedes Mal bewundere. Drei Damen um die 40 in weißen T-Shirts und beigefarbene langen Hosen, putzen und wischen die Treppe und polieren das Geländer. Drei Personen für eine Treppe.
Heute nehme ich mal das andere Buch an mich. Nicht das mit den Gefahren, sondern das Hauptbuch, in dem die Nester notieret sind, die wir überprüfen sollen und in dem alle Schlüpflinge (One to Sea) notiert werden. Obwohl ich mich weniger hetzen muss, habe ich das Gefühl, dass wir schneller vorankommen. Wir haben aber auch einiges vor: eine Ausgrabung!
Schildkrötenbabys schlüpfen in Grüppchen. Würden alle auf einmal schlüpfen, gäbe es bei ca. 100 Eiern pro Nest ordentlich Gedränge auf dem Weg an die Oberfläche. Würden sie einzeln schlüpfen, wäre die Überlebenschance gering, da sie von Vögeln einfach weggeschnappt würden. Bei zwanzig ist die Chance hoch, dass es ein paar ins Wasser schaffen, selbst wenn Angreifer draußen lauern sollten. Die Eier, die im Nest ganz ganz oben sind, schlüpfen zuerst und die Vibration ist das Signal für die nächste Gruppe. Sie schlüpfen im Abstand von ein paar Tagen. Wenn absehbar ist, dass keine weiteren mehr schlüpfen werden, werden die Nester ausgegraben und alles zu Forschungszwecken notiert: wie viele Eier sind es insgesamt? Wie viele sind geschlüpft, wie viele nicht? Die ungeschlüpften werden geöffnet: Ist ein Embryo sichtbar? In welchem Stadium hat er aufgehört sich zu entwickeln? Gibt es eine Verfärbung, die auf bestimmte Bakterien hindeutet?
Und genau das machen wir jetzt auch. Genau genommen, macht das mein Team. Die drei 20jährigen Studentinnen, ziehen sich schwarze Handschuhe an, graben einen halben Meter in den Sand, sortieren und öffnen die Eier ohne mit der Wimper zu zucken. Ich sitze auf Abstand und notiere alles, was mir zugerufen wird: middle, late, pink, novis, pip dead. Eine einzige Konfrontationstherapie für mich, die Angst vor toten Tieren hat. Der Geruch ist außerdem genau so, wie man sich den Geruch von alten Eiern vorstellt. Es sind ungewöhnlich viele geschlossene Eier, deswegen dauert diese Ausgrabung auch lang. Dabei sehe ich wirklich jedes Stadium, in dem aus einem Ei eine Schildkröte wird. Angefangen von zwei Augen, die sich aus der weißlichen Masse im Ei hervortun. Dann mal ein Kopf, bis hin zu einer komplett entwickelten kleinen Kröte, die (ohne das romantisieren zu wollen) aussieht, als würde sie schlafen. Ich bin neugierig und überrascht von mir selbst. Ich hab sogar das Gefühl, dass die detaillierte Auseinandersetzung (auf Abstand sitzen und die Luft anhaltend aber immerhin dabei) mir helfen könnte, meine Angst vor toten Tieren zu überwinden. Aber ob ich mal so viel Eier hab wie die jungen Frauen, die so abgeklärt ein Ei nach dem anderen öffnen und deren souverän gerufene Codewords ich entgegen nehme, bezweifle ich.
Für später steht bei mir Brainstorming auf dem Plan. Keine Ahnung, was das sein soll. Zuerst sind wir beide, die zu dieser Aufgabe eingeteilt wurden, ein wenig ratlos, doch da kommt die dritte Person, die uns komplementiert und weiß was zu tun ist. Es geht darum zu überlegen, wie man das Zusammenleben im Camp besser, witziger, interaktiver gestalten kann. Zum Beispiel mit Secret-Friends-Losen, einer Fotochallenge als Aushang in der Küche (1. mach ein Foto mit einem Touristen! 5. mach ein Selfie mit jemandem, der telefoniert) oder einem Slideshow-Abend, zu dem alle Babyfotos beisteuern und dann wird geraten. Ich sperre mich zuerst innerlich gegen diese Aufgabe. Ich habe zu viel Zeit meines Lebens als unterbezahlte Jugendreiseleiterin verbracht. Wir müssen das aber auch nicht selbst umsetzen, es geht einfach darum, Ideen zu sammeln. Ich lasse mich vom Enthusiasmus der anderen mitreißen und wir schreiben unsere Ideen auf (Schatzsuche, Karaokeabend, Kennenlernspiele für den Essenstisch, Slideshow-Abend mit kurzen Geschichten anstelle von Babyfotos) und ich hab Feierabend für heute.
Morgen habe ich sogar einen freien Tag, wie schön! Zuerst bin ich ehrlich gesagt mit meinem freien Tag auch ein bisschen überfordert. Für mich ist es vor allem schön heute mal einen freien Nachmittag zu haben, an dem ich weiß dass ich am nächsten Tag nicht früh aufstehen muss oder auch verkatert sein kann. Das koste ich auch voll und ganz aus! Mit Anna und ihrem Sohn vertrödelte ich den halben Nachmittag und fahre dann zu einem anderen kleinen Strand, den wir noch nicht kennen. Zusammen überlegen wir auch was wir morgen machen wollen, vielleicht ein Ausflug auf eine andere Insel? Zu einem weiter entfernten Strand? Oder auch in den südlichen Teil von Kreta? Wobei, wie ist es eigentlich mit dem Waldbrand. In dem Moment fliegt wieder ein riesiger Militärhubschrauber über unsere Köpfe hinweg, der einen Löscheimer hinter sich her zieht. Später dann die Entwarnung: der Brand ist gelöscht. Was machen wir also morgen? Auf keinen Fall eine Touri-Tour bei der man einen durchgetakteten Tagesplan hat, zwei Stunden hier, zwei Stunden dort und dann hält man an einer mittelmäßigen Taverne und einem überteuerten Souvenirladen. Ohne diese Touren, ist es allerdings ziemlich schwer einen Plan zu machen, weil Google Maps einen konstant in die Irre führt. Seit meiner Ankunft (bei der es ja doppelt so lange gedauert hat, wie angezeigt) traue ich dem sowieso nicht mehr. Ein paar andere aus dem Camp, die ihren freien Tag zeitgleich mit mir haben, haben mich auch schon sehr freundlich eingeladen, mich ihnen anzuschließen. Sie wollen ein Auto mieten, und damit zu einem Wasserfall fahren. Das klingt eigentlich sehr schön, aber ich merke einen leichten Lagerkoller und will dem direkt entgegen wirken. Es ist aufregend aber auch anstrengend plötzlich mit 40 Fremden zusammen zu wohnen.
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Mein freier Tag beginnt, wie es sich für so einen freien Tag gehört, mit Ausschlafen. Bis 9:00 Uhr, dann merke ich, wie auch in meinem Dunkel-Zeit die Hitze langsam zunimmt, dazu werden die Zikaden immer lauter und das Ausschlafen ist damit vorbei. Mit dem Geräusch des Reißverschlussöffnens werden meine drei Freunde auf der Weide schon spitz und treten an den Zaun heran, um sich ihrem täglichen kleinen Snack abzuholen und ich erschleiche mir ihre weichen Nüstern. In der WhatsApp-Gruppe zu unseren Strand-Routinen taucht ein Video auf und ich denke, ich seh nicht richtig: ein Video eines Schildkrötenbabys mit zwei Köpfen. Ich wusste überhaupt nicht, dass das möglich ist. Ich finde es sowohl gruselig als auch irgendwie cool. Vor allem weil es die doppelköpfige Schildkröte ins Wasser geschafft hat. Bei einer gestrigen Ausgrabung, bei der ich nicht war, kamen auch einige Albino-Schildkröten zum Vorschein. Spanennd.
Ich mache mir dann einen Bröselkaffee und schlendere rüber zu Anna. Weil wir weder mit der Broschüre noch mit Google Maps weiterkommen, fragen wir in der Taverne, wie weit es denn mit dem Bus in die nächste Stadt ist. Anders als Google Maps sagt uns der Mann in der Taverne, es dauert circa eine Stunde. Na das klingt doch machbar! Zuerst beschließen wir, in einer Stunde loszugehen. Nach einer Stunde beschließen wir dann eine halbe Stunde später los zu gehen, und irgendwann, circa zweieinhalb Stunden später, sind wir dann auf dem Weg. Die Busse auf Kreta.. das ist so eine Sache. Sie fahren regelmäßig aber man weiß eigentlich nie so wirklich wann. Im Endeffekt sollte man viel Zeit einplanen, sich einfach an die Bushaltestelle stellen und warten. Anna holt mir eine kalte Flasche Magarita aus dem Supermarkt, mittlerweile ist es 15:30 (wie auch immer das eigentlich passiert ist! Die Zeit verfliegt komplett und ich hab fast nichts gegessen bis auf einen Wassermelonen-Feta-Salat), da kann man schon mal seinen ersten Cocktail trinken. Aber natürlich, drei Minuten nachdem ich die Flasche geöffnet und wir alle angestoßen haben, sehen wir den Bus. Ich kippe meinen Cocktail hinunter, um dann vom Busfahrer stehen gelassen zu werden. Der Bus ist überfüllt und fährt einfach an uns vorbei. Gestern hatten wir Glück und es kam nur wenige Minuten später der nächste, bequemer, leerer und klimatisiert aber heute stehen wir noch eine ganze Weile an der Bushaltestelle, die wie eine Geister-Stadt Kulisse aus einem Wild West Film erinnert.
In der Stadt müssen wir umsteigen und warten eine gute halbe Stunde. Wir setzen uns dafür auf eine kleine private Treppe mit toller Aussicht und veranstalten ein Picknick.
Es ist schön und trotzdem überkommt mich ein ungutes Gefühl, als ich in den Bus nach Chania steige. Jetzt so weit weg vom Camp, ohne zu wissen wann und wie ich wieder zurück komme, heute Abend gibt es die Slide-Show-Night, die ich verpassen werde, überhaupt wäre das doch ein guter Tag gewesen, um mehr mit den anderen im Camp zu bonden. Hätte ich mich allein deswegen, den anderen Mädels anschließen sollen? Das Schöne an diesen Projekten ist doch auch, dass man dabei Freundschaften schließt, mit Menschen aus aller Welt und ich lasse mir das entgehen. Gestern Abend auf dem Weg nach Hause kam mir ein Mädchen entgegen, die sich mit ein paar anderen auf den Weg zum Club machte und ich war natürlich herzlich eingeladen, mich anzuschließen, aber ich war wirklich viel zu müde, trotzdem bekam ich FOMO (fear of missing out). In Berlin verpasse ich sowieso immer irgendwas, das hat die Stadt so an sich. Das beunruhigt mich aber nicht, weil ich genau weiß, dass ich jederzeit alles machen kann, egal ob feiern an einem Dienstag oder Essen gehen um Mitternacht. Alles ist immer verfügbar und für alles findet sich Gesellschaft. Doch wer weiß wie das hier ist. Als mich die freundliche Französin mit den langen braunen Haaren also fragte, ob ich mit in den Club kommen will, während sie sich am Waschbecken neben mir schminkte und ich mir schon die Zähne putze, war ich versucht mich anzuschließen aber ich ließ die Gelegenheit letztlich vorbei ziehen. Diesmal. Und genauso ließ ich den Ausflug an den Wasserfall mit den anderen vorbei ziehen und genau so lasse ich auch jetzt die Unsicherheit über all das am Busbahnhof zurück und genieße die Aussicht auf die Küste, an der wir entlang fahren.
Strände, Schluchten, Flüsse, heruntergekommene Buden, Baustellen und luxuriös wirkende Neubauprojekte. Sauber angelegte Grasflächen, die entweder an einem Grundstücks-Zaun enden oder eine gerade Grenze zum Staub bilden. Ein paar hundert Meter gibt es dann wieder üppige grüne Felder und saftige Bäume und Büsche entlang der Straßen.
Vor zehn Tagen saß ich in einem ganz ähnlichen Bus, fuhr entlang der Küste, war erschöpft, alleine und fuhr durch die Dunkelheit. Hier und heute spiegelt die Sonne mein Gemüt. Das war nur das erste Drittel meiner Zeit hier, ich werde noch so viel Gelegenheit für alles haben. Auch wenn die Stunden manchmal verfliegen, tun es die Tage noch nicht.
Die kleine Hafenstadt Chania ist wunderschön! Osmanische und venezianische Architektur, bunt bemalte Gebäude, alles sieht ein bisschen aus wie eine Wes Anderson Filmkulisse. Die Menschen die auf einem Balkon Wein trinken, wirken wie Statisten. Wir sind auf Anhieb entzückt! Ein bisschen erinnert mich alles an Camogli in Italien, wo ich mit meiner Schwester Heidi dieses Jahr war. Blaue Fenster, grüne Türen und Fensterläden. Zwischendurch ganz schmale Häuschen, nur zwei Fenster breit, alles in Pastell und abgerundet durch eine alte, lehmfarbene Stadtmauer. Mit zunehmender Stunde wird der Hafen noch unwirklicher. Ein Springbrunnen, Straßenmusik, eine altmodische Kutsche, ein Mann mit einer riesigen Traube aus Heliumballons und dahinter der Turm am Horizont über dem Wasser im Sonnenuntergangs-Lilapink wie das Disneyschloss. Traumhaft. Nach einem Frozen Yoghurt wird es aber Zeit, den Rückweg anzutreten und ich werde nervös. Auch mit dem angestrebten Bus werde ich recht spät zurück im Camp sein, jetzt hat er schon sechs Minuten Verspätung und morgen ist wieder eine frühe Strandschicht an einem unbekannten Abschnitt (von dem ich schon gehört hab, dass dort gerade einiges los sein soll). Meine Gedanken werden von der Ankunft des Reisebusses unterbrochen.
Auf den Weichen sitzen schließe ich schon mal für einen Moment meine Augen und lass mich durch die Nacht schunkeln.
Eine Ausgrabung. Schildkröteneier sehen aus wie Ping Pong Bälle.
Ich an meinem freien Tag in Chania