Tag 11  bis 12

Gestern Abend war es noch unglaublich schwer, ein Taxi zurückzubekommen. Erst kam keins und dann drei, aber alle anderen Wartenden haben sich vorgedrängelt und uns (mit einem 8 jährigen müden Kind, das sich sehr, sehr wacker geschlagen hat) stehen lassen. Der einzige Taxifahrer der uns kurz Beachtung schenkte, wollte uns nicht mitnehmen, als ihm sagte, wohin wir müssen. Ich weiß nicht 100% warum, aber ich hatte den Eindruck, dass ihm die Strecke zu kurz war und er sich an einem Samstag Abend nicht für eine 10 € Fahrt hergeben wollte. Andererseits waren wir offensichtlich verzweifelt und wenn es ihm ums Geld gegangen wäre, hätte er einfach das doppelte verlangen können, wir hätten es vermutlich bezahlt. Ich war angesichts der kurzen Nacht und langen Frühschicht, die mir bevorstand, etwas angespannt. Nach der Ankunft (wir fuhren dann doch mit dem Bus, als dieser an uns vorbei fuhr, auf der Suche nach einem Taxi) schaffte ich es gerade noch, mir die Zähne putzen, bevor ich “ins Bett” aka auf meine Luftmatratze fiel. Die Nacht war kurz und unruhig. Eine dieser Situationen, in denen ich weiß, dass ich wenig schlafen werde und mich dieser Gedanke und meine Sorge um meine Müdigkeit am nächsten Tag nachts schon um den Schlaf bringt und alles schlimmer macht.
Als ich klein war, hatte ich häufig Probleme mit dem Einschlafen. Mein Vater sagte dann immer: “Du musst auch nicht schlafen. Leg dich hin und ruh dich aus, das hilft auch schon.” Dieser Gedanke ist auch heute noch so beruhigend, dass er mir letztlich den Druck nimmt und beim Einschlafen hilft.

Meine nächtliche Unruhe rührte auch daher, dass auf dem nächsten Strandabschnitt angeblich einiges los sein soll, davon ist erstmal nichts zu bemerken. Wirklich gar nichts. Das aufregendste ist lange der ungewöhnlich starke Wind, der heute herrscht. Die Wellen sind hoch und brechen so dramatisch, dass ich an “Das letzte Einhorn” denken muss und die Herde, die aus der Gischt galoppiert.
Wir kommen an einer Umzäunung vorbei, die an einer Stelle kaputt ist. Die Spuren lassen erkennen, dass diese Nacht viele Schildkröten geschlüpft und über den kaputten Zaun hinaus in alle Richtungen gelaufen sind. Es ist schwer zuzuordnen, welche Spur wo lang führt und wo sie endet, da sie kreuz und quer übereinander gehen. Keine Daten sind besser als falsche Daten, wenn ihr etwas nicht wisst oder nicht erkennen könnt, dann schreibt eben das auf und erfindet nicht irgendwas. Sagte uns der Teamleiter bei der Einführung, als es um die Arbeit am Strand, mit den Nestern und Schildkröten ging. Wir tun unser Bestes. Manche Spuren führen zum Meer, manche enden im Sand neben der Spur einer Katze oder eines Vogels. Wir schreiben auf und ziehen weiter.
Etwas weiter am Strand wurde einer unserer Gestelle zur Lokaliserung der Nester verschoben und wir müssen die Originalposition wieder finden. Das passiert leider täglich. Manchmal ist zu erkennen, dass die Person ihren Liegestuhl oder noch schlimmer ihren Sonnenschirm hier hinstellen wollte. Manchmal lässt es sich aber auch nur mit purer Schikane erklären. Wir suchen die Zeichnungen, die notierten Abstände, im Zweifelsfall die GPS Koordinaten und Fotos, die wir vom Nest haben, heraus und finden immer die Originalposition.
Der erste Abschnitt ist damit beendet und es war wirklich zäh, doch wir sind noch lange nicht durch.

Wir sind kurz vor “Dem Brutkasten” eine Umzäunung, in der sich viele Nester befinden, vor allem solche, die umgesiedelt werden mussten. Wir notieren alles genau, beraten uns, ob die Babykrötenspuren die über dem Nest laufen daher kommen, dass die Schildkröte wirklich aus diesem Nest geschlüpft ist oder vielleicht aus einem anderen, und nur hier drüber gelaufen ist, dann sehen wir eine Schildkröte im Nest die vorher nicht da war, sie muss gerade aus der Erde gekrochen sein. Bisschen spät Kollegin, es ist 9 Uhr. Ihr sollt doch nachts schlüpfen. Meine Teamleiterin reicht mir einen Handschuh (niemals darf die Schildkröte mit den Händen angefasst werden, wir berühren sie sowieso nur wenn es sein muss, am besten ist es für sie immer, wenn sie alles alleine schafft). Wir graben ihr einen Highway in den Sand zum Meer. Ich gebe ihr Schatten, meine Teamleiterin gräbt. Wie aufregend. Dann ruft der Dritte im Team uns zu, dass es weiter vorne noch einen lebenden Schlüpfling gibt. Meine Teamleiterin wendet sich diesem zu und ich bin jetzt mit meinem Schlüpfling alleine. Ganz allein verantwortlich. Noch aufregender. Er wird es eindeutig schaffen, er ist flink. Trotzdem macht er zwischendurch Pausen. In diesen Pausen ist er so regungslos, dass ich beim ersten Mal denke: Oh je, das wars. Doch dann setzt er zum neuen Sprint an und krabbelt einige Zentimeter nach vorne. Wieder eine Pause, ich rede uns beiden gut zu: Komm schon, du schaffst es. Ich grabe den Tunnel vorweg, ich beschatte, ich halte sie davon ab, in die falsche Richtung zu laufen (zB nach oben, die Mauer meines Tunnels hinauf). Ich klopfe auf den Boden, um sie zu motivieren und um die Vibration des Meeres zu imitieren und ihr so die Richtung zu zeigen. Neben mir taucht eine Touristin auf, die tausend Fragen stellt und ich versuche die Balance zu finden: meine oberste Priorität ist der Schildkrötenschutz, trotzdem habe ich auch einen Vermittlungsauftrag und je mehr Leute so etwas miterleben, desto größer ist ihre emotionale Verbundenheit zu Schildkröten, und die Schildkröten-Lobby wächst. Warum haben manche Tiere in unserer Welt ein besseres Leben als andere? Sie haben eine bessere Lobby. Warum genießen Pferde, Hunde oder Katzen viel hochwertiges Futter, medizinische Versorgung, Fürsorge und ein langes Leben im Gegensatz zu Legehühnern, Kühen und Schweinen? Bessere Lobby. Deswegen sind Aufmerksamkeit und solche Momente wichtig. Es gibt auch einige Volontäre, die als Kinder im Griechenland-Urlaub beobachtet haben, wie eine Babyschildkröte ins Wasser ging und die deswegen fünf bis zehn Jahre später beschlossen haben, als Freiwillige ihren Sommer hier zu verbringen. Die Balance ist also wichtig.
Diese kleine Schildkröte steht jetzt vor der Wasserkante und ich muss nichts weiter tun, außer mich in den Schatten zu stellen und sie zu beobachten. Sie schafft es alleine. Sobald sie das Wasser spürt wechselt sie vom Krabbel in den Schwimmmodus. Ihr Körperhaltung und ihre Atmung verändert sich (weswegen man Meeresschidlkröten an Land, egal wie ausgetrocknet sie wirken, nicht mit Wasser benetzen darf, sie wechseln den Modus, heben ihre Flossen an und verändern die Atmung und in diesem Modus werden sie es nicht mehr ins Meer schaffen). Aber sie schafft es und ich möchte ihr applaudieren, so begeistert bin ich von ihrer kurzen, eindrucksvollen Reise. Die Touristin fragt mich: Wie alt ist die Schildkröte?
Ich antworte: Vielleicht zehn Minuten.
Ich muss diese Information mehrmals wiederholen, weil sie sich nicht vorstellen kann, dass die Schildkröten wirklich schlüpfen und direkt ins Meer laufen. Neulich beim Abendessen wurden die absurdesten Toursiten-Geschichten ausgetauscht, darunter eine Frau die Brotkrumen auf die Nester warf, damit die Kleinen etwas zu essen haben wenn sie schlüpfen. Aber sie essen nicht. Sie haben aus der Zeit im Ei eine Reserve in ihrem Magen, die es ihnen ermöglicht, diese anstrengende Reise vom Nest ins Meer anzutreten und erstmal los zu schwimmen.
Dann laufe ich noch rüber zur Zweiten Babyschidlkröte und beobachte, wie auch sie im Wasser verschwindet. Diese Schicht wurde gerade so richtig aufregend.
Wenn viel passiert, gibt es später auch viel auf zu schreiben. Nach jeder Morgenroutine müssen die Notizen übertragen werden und ich lerne so langsam wie das eigentlich geht. Und ich freue mich, als ich die Informationen über das Nest, mein Nest, mit meiner Schildkröte notiere.


Am Abend dann ein ganz anderes Programm: Ein Vortrag. Ein Vortrag über Meeresschildkröten und unsere Arbeit hier am Strand und Hinweise für Tourist:innen, den ich halten soll. Ich bin vorfreudig, mal wieder ein Publikum für irgendwas zu haben und es läuft richtig gut. Davon abgesehen, dass ich vielleicht zu schnell rede. Wir rattern die Präsentation zu zweit in 20 Minuten durch, aber ich bin mir auch nicht so sicher, ob die Leute in der Taverne wirklich interessiert sind oder ob wir sie beim Essen stören. Es kommen aber einige danach auf uns zu und bekunden ihr Interesse und (was sehr oft passiert) bedanken sich für unseren Einsatz.  Wieder zurück im nahegelegenen Camp, setzte ich mich mit einem Feierabendbier zu zwei, drei anderen am Tisch und unterhalte mich. Das Gespräch driftet irgendwann in eine wissenschaftliche Richtung ab, in der ich nicht mehr allzu viel beitragen kann, aber ich höre interessiert zu und fühle mich ganz dabei. Dann sprechen wir über Mamma Mia (ha ich bin wieder drin!) und planen einen Filmabend mit Mama Mia 2. Diesmal singen gefälligst alle mit. “Hast du gesehen, dass du eine Nachricht hast?” Höre ich dann aus der Küche.
Mein “Secret Friend” (also jemand, der meinen Namen aus dem Lostopf gezogen hat) hat mir drei verschiedene Limos auf den Tisch gestellt und mir in einem Briefchen viel Glück für meine Präsentation gewünscht. Sehr sehr lieb. 

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Bastelstunde! Wir reparieren die Zäune. Sie sind zugegeben nicht die beste Option, aber die beste, die wir haben. Ja, sie sind recycelt, aber sie enthalten Platsik und gehen schnell kaputt. Trotzdem haben wir für unser Problem mit der Lichtverschmutzung bisher keine bessere Lösung gefunden und wenn sie nicht irgendwo einbrechen, bzw von Menschen, Katzen, Hunden zerstört werden, sind sie sehr effektiv. Ich habe schon häufig kleine Spuren von Schildkröten gesehen, die innerhalb des Zauns herumlaufen und dann irgendwann am Zaun entlang bis ins Wasser finden, wobei sie so nicht nur den Weg finden, sondern dabei auch ein bisschen Schatten genießen. Ich mag das Konzept, dass alle alles machen. Es ist einfacher, den Zaun so zu bauen, dass er funktioniert, wenn man ihn selbst schon mal aufgestellt hat. Ich baue ihn vorsichtiger ab, wenn ich selbst weiß, wieviel Arbeit es ist, ihn zu reparieren. 
“Hast du kurz Zeit?” fragt mich meine direkte Zeltnachbarin, es ist ihr letzter Tag. Anfangs wusste ich sie gar nicht so richtig einzuordnen, sie war laut und viel und wollte immer, dass ich ihr erkläre, wie man das deutsche Wort “Gewelschnecke” ausspricht. Ich weiß es nicht, Gewelschnecke ist kein deutsches Wort. Ich glaube ehrlich gesagt, das ist überhaupt kein Wort. Aber dann hatte ich mal eine Kiosk-Schicht mit ihr und sie fing aus Langeweile an, Fotos ab zu zeichnen und sie kann wirklich schön zeichnen. Ein ganz sanfter, ruhiger Strich. Und das hat sie ein bisschen nahbarer gemacht. Während des Zeichnens sagte sie dann (alles auf englisch ich übersetze das hier immer): “Wenn ich zu viel rede, sag einfach, ich soll die Fresse halten. Ist wirklich okay.”
“Das ist ist nicht so meine Art, aber ich versuche, Bescheid zu sagen, wenn ich mich gestört fühle.” Und irgendwie war dann das Eis gebrochen und wir begannen uns ein bisschen anzufreunden. Jetzt reist sie aber auch schon wieder ab (es ist generell ein großes Kommen und Gehen hier) und sie braucht Hilfe, ihr Wurfzelt ein zu packen. Was in 2 Sekunden aufploppt, braucht erstaunlich lange, um wieder in die Zelttasche zu passen, aber zu zweit und mit vollem Körpereinsatz (Jetzt schnell, ich halt fest, mach das Ding da rum! Die Schnur! Die muss da rum!) klappt es. Mit ihr geht allerdings auch die Hängematte, die sie direkt neben unseren Zelten, zwischen die Bäume gehängt hat. Ich hab die gerne mit benutzt. Jetzt hängt da schon eine neue aber ich weiß nicht von wem und ob ich die mitbenutzen darf.
“Die kannst du haben, wenn du willst”, sagt sie zu meiner Überraschung und ich frag mich, ob ich sie irgendwie falsch verstanden habe, das ist ja gar nicht ihre. “Doch das ist meine Zweite, ich hab sie von jemand anderem hier geschenkt bekommen, der sie nicht mitnehmen wollte und ich hab sie jetzt mal für dich an den Baum gehangen. Wenn du magst.” Und wie ich mag! Das ist ja sowas von lieb. Ich lege mich direkt rein und höre noch, wie sie sagt: “Ich hoffe sie hält, ich hab sie ein bisschen halbherzig hier hin gehangen” aber da lieg ich schon mitsamt der Hängematte lachend auf dem Boden.
Kurz darauf verabschieden wir uns.  “Ah! Wir müssen noch ein Video für meine deutsche Freundin machen, wie du mir beibringst, Gewelschnecke zu sagen.” Sie holt einen Zettel heraus, auf dem “Gewürznelke” steht. Achsooo. Was auch immer der Insider hinter diesem Wort ist, den ich nicht verstehe, wir machen natürlich ein Video für ihre deutsche Freundin.

An diesem Tag komme ich dann zum zweiten Mal auf die Idee, mich für den Sonnenuntergang an den Strand zu setzen. Vor allem als ich durch das Camp laufe und niemanden sehe, außer die Person, die Base Camp Schicht hat. Auf meine Frage, wo denn alle sind, antwortet sie: Am Strand. Sonnenuntergang. Es ist mein zwölfter Tag hier und ich bin fast nie auf die Idee gekommen, mir den Sonnenuntergang am Strand anzusehen, der direkt vor meiner Nase ist!? Das wird sofort geändert, aber nicht ohne ein kühles Getränk. Auf dem Weg zum Kühlschrank, wo ich mir ein paar gute IPA kaltgestellt habe, kommt mir Annas Kind entgegen und fragt mich, was ich so mache. „Sonnenuntergang gucken, kommst du mit?“ Schon bald sitzen wir nebeneinander auf auf einem Liegestuhl und sehen zu, wie die grapefruitpinke Sonne hinter den Bergen über dem Meereshorizont verschwindet.  




Sonnenuntergang am Strand