Tag 13 bis 15
Morgens ist es irgendwie kalt. Es ist hier eigentlich nie kalt, nicht mal um 5 Uhr morgens, aber heute ist es etwas kälter als sonst und trotzdem warm genug, für Shorts und T-Shirt.
Wobei, wenn ich einen Pullover dabei hätte, würde ich ihn vielleicht anziehen. Oder nicht. Ich fröstel zwar ein wenig, doch wenn ich daran denke, dass es direkt nach Sonnenaufgang wärmer wird, gehts. Vor allem wenn ich daran denke, dass es zwei, drei Stunden später schon so heiß ist, dass ich am liebsten alles ausziehen möchte und mich für jedes zusätzliche Gramm Gepäck verfluchen werde. Es ist 5:20 Uhr, ich hab fast verschlafen. Ich habe nur darüber nachgedacht, mich anzuziehen, ich hab’s noch gar nicht gemacht.
Wir setzen uns zu dritt ins Auto: Meine Teamleiterin, ein Fahrer und ich. Ich hatte ja auch überlegt, mich als Fahrerin zu melden, immerhin habe ich seit sieben Jahren einen Führerschein aber den benutze ich nie. “Wenn du in Deutschland nie fährst, dann ist hier vielleicht nicht der richtige Ort um damit an zu fangen. Die Leute hier fahren wie verrückt”, sagt mir unser Fahrer. Im Auto riecht es nach Sand, nach warmer Luft und nach nassen Badesachen, die man abends im Rucksack vergessen hat. Er erzählt, dass es gestern einen Notfall-Anruf gab, zu dem er ausgeschwärmt ist. Wenn Tourist:innen am Strand einen Notfall beobachten, wie zB viele kleine Schlüpflinge, die in alle möglichen Richtungen laufen, nur nicht ins Meer. Gestern kam so ein Anruf um 23 Uhr, dass schon einige Schildkrötenbabys reglos am Strand liegen und eine handvoll kreuz und quer läuft. “Die haben es dann auch alle ins Wasser geschafft, das war total schön. Es waren viele Touristen drum herum, die das beobachtet haben, die wir auch eingebaut haben, um Schatten zu spenden und Sandtunnel zu graben und so, das hat richtig Spaß gemacht.”
Meine Partnerin und ich sind heute zu zweit am Strand und wir begehen den letzten Abschnitt, den ich noch nicht kenne. Zum ersten Mal frage ich mich, ob wir vielleicht eine Sprachbarriere haben. Alle hier sprechen sehr gutes Englisch, das ist auch eine der Grundvoraussetzungen und es ist auch die Sprache, auf der wir uns jetzt unterhalten, aber wir beide müssen uns ein bisschen mehr konzentrieren, um einander zu verstehen. Wir sind beide müde, um das zu verstehen braucht es nicht viele Worte. Wie sollte es auch anders sein, um diese Uhrzeit. “Hast du gut geschlafen?”, will ich wissen.
“Ja, ich schlafe eigentlich immer gut. Ich bin aber auch drei Monate hier und habe mir ein großes Zelt mitgenommen für viel Komfort.”
“Ah du bist das! Das große Zelt, in dem man stehen kann?”
Sie grinst. “Ja, ich kann mich aufrecht umziehen.”
“Wow. Living the dream.” So verquatschen wir die Zeit bis zum Sonnenaufgang und damit zum Anfang unserer Schicht. Diese beginnt direkt mit einer Ausgrabung. Sie kommentiert den Geruch des Nests noch bevor wir angefangen haben zu graben. Ich kriege das noch gar nicht mit, aber je näher wir den Eiern kommen, desto mehr verstehe ich, was sie meint. Das Nest auszugraben gestaltet sich als sehr mühsam, weil der weiche, trockene Sand immer wieder von außen in die Mitte rutscht. Wir behelfen uns mit Wasser, um den Sand zu stabilisieren und dem Nest auf den Grund zu kommen. Mein Blick wechselt zwischen meiner Kollegin, die die Eier öffnet, und dem Notizbuch, in dem ich die Daten sammle. Wie ich von meiner Strichliste aufsehe, seh ich im Hintergrund am Strand eine zierliche Frau mit langen braunen Haaren und einem knallpinken Kleid, die ausgiebig vor einem Stativ posiert. Es ist schon lustig, sie da ihre Tik Tok Videos machen zu sehen, während ich notiere, ob der Glibber da im Schildkrötenei weiß, grün oder grau ist. Aber auch ziemlicher Einsatz von ihr, um 06:30 Uhr schon social media ready und am Strand zu sein und sich zu verbiegen. Im Auto lief vorhin der Beatles Song “In my Life” der sich als Ohrwurm in meinem Kopf festgesetzt hat. Nach der ersten Ausgrabung geht es weiter und wir finden Schildkrötenspuren, die sich keinem Nest zuordnen lassen. Sie müssen aus einem Nest stammen, das von uns bisher nicht gefunden wurde. Während sie die Position des Nests ermittelt und notiert, laufe ich die Spuren entlang und stoße auf eine kleine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt. Ich stelle meinen Rucksack vor sie, damit sie Schatten hat und hole mir einen Handschuh, um ihr helfen zu können, sollte sie es nicht alleine schaffen, sich umzudrehen. Sie schafft es nicht.
“Sie ist schon so weit gelaufen, du kannst sie näher an den Strand setzen, dort einen Sandtunnel graben und schauen, ob sie es schafft.” Ich bin ganz perplex, dass ich sie aufheben darf und muss mich auch kurz überwinden. Ich habe Angst, sie kaputt zu machen, oder davor, dass sie mir von der Hand rutscht. Ich beeile mich also, sie nach vorne zu tragen, schiebe den heißen Sand beiseite und setze sie in meinen Schatten. Sie bewegt sich nicht. Gar nicht. War das zu anstrengend für sie? Hab ich sie zu sehr gestresst? Hat sie einen Herzinfarkt bekommen? Nicht, dass ich jemals von sowas gehört hätte, aber das sind so Gedanken, die ich mir mache. Sie bewegt sich ein klein wenig. Aber ich habe doch eher das Gefühl, dass ich ihr beim Sterben zusehe. Ich klopfe auf den Sand vor ihr. Die Vibration soll die Wellen imitieren und sie motivieren. Sie bewegt sich nicht. Meine Kollegin ist ganz ruhig und erklärt mir, wie ich sie neu eingraben kann. Graben, Schildkröte einsetzen, dann kühler Sand, damit sie nicht verbrennt, dann weicher Sand, damit sie es nicht so schwer hat, hoch zu klettern. Alle Steine aus dem Weg räumen. Ich hebe sie also ein zweites Mal hoch und in meiner Hand bewegt sie sich, wofür ich sehr dankbar bin. Bei diesem Ereignis bleibt es nicht, ich finde noch zwei Schildkrötenbabys und buddle sie letztendlich alle ein. Im Camp sagte mal jemand: "Ich bin mir sicher, dass da draußen irgendwo eine Schildkröte am Leben ist, weil sie nochmal eingebuddelt wurde und eine zweite Chance bekommen hat.” Und daran denke ich jetzt.
“Bist du okay?”, werde ich freundlich gefragt. “Ja alles gut”, antworte ich und bin überrascht, wie unbeteiligt ich klinge. Als letztes gibt es noch eine zweite Ausgrabung, bei der wir sehr viele Zuschauer:innen haben, einige aus Deutschland. Wenn mir die Fragen zu viel werden, verweise ich auf unseren Infostand und habe das Gefühl, damit immer auf Verständnis zu stoßen. Am Ende sehe ich einen freundlichen Mann, der mir hinter einer Strandbar zuwinkt. Er hat uns zwei kalte Flaschen Wasser auf den Tresen gestellt und als ich sie mir abhole bekam ich auch noch einen Cappuccino geschenkt. Schnell merken wir beide, dass wir deutsch sprechen. Er ist Grieche, aber hat 14 Jahre in Oberhausen gelebt. “Wenn ihr hier in der Nähe seid, könnt ihr immer auf einen Kaffee vorbeikommen.” Genau das habe ich gerade gebraucht. Da alles länger gedauert hat, als geplant, kommt uns ein anderes Team zu Hilfe und teilt sich den Rest des Strandes mit uns auf.
Danach wird erstmal geduscht! Nicht nur, weil ich Lust auf Duschen habe, sondern weil wir nach einer Ausgrabung immer duschen sollten. Auch wenn wir Handschuhe tragen und vorsichtig sind, ist es nicht auszuschließen, dass wir mit den Bakterien in den Schildkröteneiern in Berührung kommen. Es ist also für unsere eigene körperliche Gesundheit wichtig danach zu duschen. Und für meine ganz private, mentale Gesundheit, ist es auch wichtig, während der Dusche Podcast zu hören, mir dann einen zweiten Kaffee in der Taverne zu bestellen und mich mit einem ausgiebigen Frühstück zu belohnen. Ich habe viel Zeit bis zu meiner Schicht in einem deutschen Hotel. Ziemlich deutscher Tag. Mit meiner deutschen Teamleiterin, betreue ich einen Infostand und sie hält einen Vortrag, direkt vor der “Griechischen Nacht”. Alles ein bisschen skurril, aber lustig. Vor allem verfolge ich ihren Vortrag mit Spannung. Sie ist schon das fünfte Jahr in Folge dabei und ist außerdem Biologielehrerin, sie weiß also alles und noch mehr und sie brennt für dieses Projekt. Das merkt man sofort. Sie sagt in ihrem Vortrag Schlupfzeit und nicht Schlüpfzeit. Heißt es dann auch Schlupflinge?
Wir bekommen vom Hotel ein Glas kalte Cola mit Limette, aber ohne Kohlensäure hingestellt und trinken sie beide verwundert aus. Nach ihrem Vortrag werden wir direkt von vier traditionellen griechischen Tänzer:innen und sehr lauter verstärkter Musik abgelöst, welche die Gäste zum Abendessen unterhalten. Wir packen schnell zusammen und fahren mit dem Auto zurück, sie fährt. Aber nur in Griechenland. In Deutschland fährt sie nie, aber hier ist es irgendwie entspannter. Sagt sie, während sie am Zebrastreifen hält, um zwei Frauen und einen Mann mit Kinderwagen überqueren zu lassen. Sie reißt die Augen auf: “Oh mein Gott, das ist Gzuz! Ich fass es nicht.” Ich muss zugeben, dass ich noch nie von ihm gehört habe, aber das hindert uns beide nicht daran, “Spätibier” über die Autolautsprecher zu hören, die Frauenfeindlichkeit der Texte komplett zu ignorieren und uns zu amüsieren.
Die nächsten beiden Tage kommen mir ziemlich kurz vor, weil ich keine Strandschichten habe und dadurch die Tage erst gemptlich um 9 oder 10 Uhr statt um 5 Uhr anfangen. Meine Base Camp Schicht nehme ich so richtig ernst. Ich hab auch Lust, alles ein bisschen schöner zu machen und finde dafür eine gute Gesellschaft. Ich nehme mir ein paar scheinbar vernachlässigte Ecken vor, wische und repariere. Dabei lerne einen neuen Volunteer kennen, der sich ein bisschen langweilt und Beschäftigung sucht. Wir verstehen und auf Anhieb und reden über alles Mögliche, vor allem über Macher-Weisheiten, die uns unsere Eltern uns mitgegeben haben. “Nur langweiligen Leuten ist langweilig” oder “Ob ist viel anstrengender als wie”. Und wir reden über den Brexit und Schottland (Ich liebe Schottland! -Ich auch!) Und so habe ich beim Aufräumen ne gute Zeit. Es kommt mir vor, als wäre kaum Zeit bis zum Abend, an dem ich in einem anderen Deutschen Hotel einen Vortrag über die Schildkröten halte, über ihr Verhalten, die Konflikte mit dem Tourismus an den Niststränden, darüber wie sie, die Tourist:innen den Schildkröten helfen können oder wie sie uns helfen können den Schildkröten zu helfen. Es fühlt sich gut an jetzt mehr zu wissen, etwas mehr Verantwortung zu haben (wobei ich sagen muss dass ich es auch sehr genossen habe, keine Ahnung und gefühlt wenig Verantwortung zu haben aber nach zwei Wochen hat sich das auserzählt). Am nächsten Tag bin ich sogar selbst Hauptverantwortlich für den Infostand. Ich lasse den Abend mit einer Runde Beachvolleyball am Strand ausklingen, mit Blick auf die untergehende Sonne. Das Spielniveau ist dabei angenehm durchmischt und obwohl schon alle den Überblick behalten, wer jetzt Aufschlag hat, wann rotiert wird und ob der Ball drin oder draußen landet, zählt niemand die Punkte. Mein heimliches Highlight ist allerdings, dass ich aktuell den Snake-Rekord im Camp halte. Anstelle von Mamma Mia 2 wurde über den Beamer ein Snake-Turnier veranstaltet und als eine der wenigen Personen hier, die mit einem Nokia 3310 aufgewachsen ist, hatte ich da natürlich einen Vorteil. Der morgige Tag wird dafür wieder lang und beginnt um 5 Uhr morgens. Ich bin gespannt. Halbzeit.
Morgens ist es irgendwie kalt. Es ist hier eigentlich nie kalt, nicht mal um 5 Uhr morgens, aber heute ist es etwas kälter als sonst und trotzdem warm genug, für Shorts und T-Shirt.
Wobei, wenn ich einen Pullover dabei hätte, würde ich ihn vielleicht anziehen. Oder nicht. Ich fröstel zwar ein wenig, doch wenn ich daran denke, dass es direkt nach Sonnenaufgang wärmer wird, gehts. Vor allem wenn ich daran denke, dass es zwei, drei Stunden später schon so heiß ist, dass ich am liebsten alles ausziehen möchte und mich für jedes zusätzliche Gramm Gepäck verfluchen werde. Es ist 5:20 Uhr, ich hab fast verschlafen. Ich habe nur darüber nachgedacht, mich anzuziehen, ich hab’s noch gar nicht gemacht.
Wir setzen uns zu dritt ins Auto: Meine Teamleiterin, ein Fahrer und ich. Ich hatte ja auch überlegt, mich als Fahrerin zu melden, immerhin habe ich seit sieben Jahren einen Führerschein aber den benutze ich nie. “Wenn du in Deutschland nie fährst, dann ist hier vielleicht nicht der richtige Ort um damit an zu fangen. Die Leute hier fahren wie verrückt”, sagt mir unser Fahrer. Im Auto riecht es nach Sand, nach warmer Luft und nach nassen Badesachen, die man abends im Rucksack vergessen hat. Er erzählt, dass es gestern einen Notfall-Anruf gab, zu dem er ausgeschwärmt ist. Wenn Tourist:innen am Strand einen Notfall beobachten, wie zB viele kleine Schlüpflinge, die in alle möglichen Richtungen laufen, nur nicht ins Meer. Gestern kam so ein Anruf um 23 Uhr, dass schon einige Schildkrötenbabys reglos am Strand liegen und eine handvoll kreuz und quer läuft. “Die haben es dann auch alle ins Wasser geschafft, das war total schön. Es waren viele Touristen drum herum, die das beobachtet haben, die wir auch eingebaut haben, um Schatten zu spenden und Sandtunnel zu graben und so, das hat richtig Spaß gemacht.”
Meine Partnerin und ich sind heute zu zweit am Strand und wir begehen den letzten Abschnitt, den ich noch nicht kenne. Zum ersten Mal frage ich mich, ob wir vielleicht eine Sprachbarriere haben. Alle hier sprechen sehr gutes Englisch, das ist auch eine der Grundvoraussetzungen und es ist auch die Sprache, auf der wir uns jetzt unterhalten, aber wir beide müssen uns ein bisschen mehr konzentrieren, um einander zu verstehen. Wir sind beide müde, um das zu verstehen braucht es nicht viele Worte. Wie sollte es auch anders sein, um diese Uhrzeit. “Hast du gut geschlafen?”, will ich wissen.
“Ja, ich schlafe eigentlich immer gut. Ich bin aber auch drei Monate hier und habe mir ein großes Zelt mitgenommen für viel Komfort.”
“Ah du bist das! Das große Zelt, in dem man stehen kann?”
Sie grinst. “Ja, ich kann mich aufrecht umziehen.”
“Wow. Living the dream.” So verquatschen wir die Zeit bis zum Sonnenaufgang und damit zum Anfang unserer Schicht. Diese beginnt direkt mit einer Ausgrabung. Sie kommentiert den Geruch des Nests noch bevor wir angefangen haben zu graben. Ich kriege das noch gar nicht mit, aber je näher wir den Eiern kommen, desto mehr verstehe ich, was sie meint. Das Nest auszugraben gestaltet sich als sehr mühsam, weil der weiche, trockene Sand immer wieder von außen in die Mitte rutscht. Wir behelfen uns mit Wasser, um den Sand zu stabilisieren und dem Nest auf den Grund zu kommen. Mein Blick wechselt zwischen meiner Kollegin, die die Eier öffnet, und dem Notizbuch, in dem ich die Daten sammle. Wie ich von meiner Strichliste aufsehe, seh ich im Hintergrund am Strand eine zierliche Frau mit langen braunen Haaren und einem knallpinken Kleid, die ausgiebig vor einem Stativ posiert. Es ist schon lustig, sie da ihre Tik Tok Videos machen zu sehen, während ich notiere, ob der Glibber da im Schildkrötenei weiß, grün oder grau ist. Aber auch ziemlicher Einsatz von ihr, um 06:30 Uhr schon social media ready und am Strand zu sein und sich zu verbiegen. Im Auto lief vorhin der Beatles Song “In my Life” der sich als Ohrwurm in meinem Kopf festgesetzt hat. Nach der ersten Ausgrabung geht es weiter und wir finden Schildkrötenspuren, die sich keinem Nest zuordnen lassen. Sie müssen aus einem Nest stammen, das von uns bisher nicht gefunden wurde. Während sie die Position des Nests ermittelt und notiert, laufe ich die Spuren entlang und stoße auf eine kleine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt. Ich stelle meinen Rucksack vor sie, damit sie Schatten hat und hole mir einen Handschuh, um ihr helfen zu können, sollte sie es nicht alleine schaffen, sich umzudrehen. Sie schafft es nicht.
“Sie ist schon so weit gelaufen, du kannst sie näher an den Strand setzen, dort einen Sandtunnel graben und schauen, ob sie es schafft.” Ich bin ganz perplex, dass ich sie aufheben darf und muss mich auch kurz überwinden. Ich habe Angst, sie kaputt zu machen, oder davor, dass sie mir von der Hand rutscht. Ich beeile mich also, sie nach vorne zu tragen, schiebe den heißen Sand beiseite und setze sie in meinen Schatten. Sie bewegt sich nicht. Gar nicht. War das zu anstrengend für sie? Hab ich sie zu sehr gestresst? Hat sie einen Herzinfarkt bekommen? Nicht, dass ich jemals von sowas gehört hätte, aber das sind so Gedanken, die ich mir mache. Sie bewegt sich ein klein wenig. Aber ich habe doch eher das Gefühl, dass ich ihr beim Sterben zusehe. Ich klopfe auf den Sand vor ihr. Die Vibration soll die Wellen imitieren und sie motivieren. Sie bewegt sich nicht. Meine Kollegin ist ganz ruhig und erklärt mir, wie ich sie neu eingraben kann. Graben, Schildkröte einsetzen, dann kühler Sand, damit sie nicht verbrennt, dann weicher Sand, damit sie es nicht so schwer hat, hoch zu klettern. Alle Steine aus dem Weg räumen. Ich hebe sie also ein zweites Mal hoch und in meiner Hand bewegt sie sich, wofür ich sehr dankbar bin. Bei diesem Ereignis bleibt es nicht, ich finde noch zwei Schildkrötenbabys und buddle sie letztendlich alle ein. Im Camp sagte mal jemand: "Ich bin mir sicher, dass da draußen irgendwo eine Schildkröte am Leben ist, weil sie nochmal eingebuddelt wurde und eine zweite Chance bekommen hat.” Und daran denke ich jetzt.
“Bist du okay?”, werde ich freundlich gefragt. “Ja alles gut”, antworte ich und bin überrascht, wie unbeteiligt ich klinge. Als letztes gibt es noch eine zweite Ausgrabung, bei der wir sehr viele Zuschauer:innen haben, einige aus Deutschland. Wenn mir die Fragen zu viel werden, verweise ich auf unseren Infostand und habe das Gefühl, damit immer auf Verständnis zu stoßen. Am Ende sehe ich einen freundlichen Mann, der mir hinter einer Strandbar zuwinkt. Er hat uns zwei kalte Flaschen Wasser auf den Tresen gestellt und als ich sie mir abhole bekam ich auch noch einen Cappuccino geschenkt. Schnell merken wir beide, dass wir deutsch sprechen. Er ist Grieche, aber hat 14 Jahre in Oberhausen gelebt. “Wenn ihr hier in der Nähe seid, könnt ihr immer auf einen Kaffee vorbeikommen.” Genau das habe ich gerade gebraucht. Da alles länger gedauert hat, als geplant, kommt uns ein anderes Team zu Hilfe und teilt sich den Rest des Strandes mit uns auf.
Danach wird erstmal geduscht! Nicht nur, weil ich Lust auf Duschen habe, sondern weil wir nach einer Ausgrabung immer duschen sollten. Auch wenn wir Handschuhe tragen und vorsichtig sind, ist es nicht auszuschließen, dass wir mit den Bakterien in den Schildkröteneiern in Berührung kommen. Es ist also für unsere eigene körperliche Gesundheit wichtig danach zu duschen. Und für meine ganz private, mentale Gesundheit, ist es auch wichtig, während der Dusche Podcast zu hören, mir dann einen zweiten Kaffee in der Taverne zu bestellen und mich mit einem ausgiebigen Frühstück zu belohnen. Ich habe viel Zeit bis zu meiner Schicht in einem deutschen Hotel. Ziemlich deutscher Tag. Mit meiner deutschen Teamleiterin, betreue ich einen Infostand und sie hält einen Vortrag, direkt vor der “Griechischen Nacht”. Alles ein bisschen skurril, aber lustig. Vor allem verfolge ich ihren Vortrag mit Spannung. Sie ist schon das fünfte Jahr in Folge dabei und ist außerdem Biologielehrerin, sie weiß also alles und noch mehr und sie brennt für dieses Projekt. Das merkt man sofort. Sie sagt in ihrem Vortrag Schlupfzeit und nicht Schlüpfzeit. Heißt es dann auch Schlupflinge?
Wir bekommen vom Hotel ein Glas kalte Cola mit Limette, aber ohne Kohlensäure hingestellt und trinken sie beide verwundert aus. Nach ihrem Vortrag werden wir direkt von vier traditionellen griechischen Tänzer:innen und sehr lauter verstärkter Musik abgelöst, welche die Gäste zum Abendessen unterhalten. Wir packen schnell zusammen und fahren mit dem Auto zurück, sie fährt. Aber nur in Griechenland. In Deutschland fährt sie nie, aber hier ist es irgendwie entspannter. Sagt sie, während sie am Zebrastreifen hält, um zwei Frauen und einen Mann mit Kinderwagen überqueren zu lassen. Sie reißt die Augen auf: “Oh mein Gott, das ist Gzuz! Ich fass es nicht.” Ich muss zugeben, dass ich noch nie von ihm gehört habe, aber das hindert uns beide nicht daran, “Spätibier” über die Autolautsprecher zu hören, die Frauenfeindlichkeit der Texte komplett zu ignorieren und uns zu amüsieren.
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Die nächsten beiden Tage kommen mir ziemlich kurz vor, weil ich keine Strandschichten habe und dadurch die Tage erst gemptlich um 9 oder 10 Uhr statt um 5 Uhr anfangen. Meine Base Camp Schicht nehme ich so richtig ernst. Ich hab auch Lust, alles ein bisschen schöner zu machen und finde dafür eine gute Gesellschaft. Ich nehme mir ein paar scheinbar vernachlässigte Ecken vor, wische und repariere. Dabei lerne einen neuen Volunteer kennen, der sich ein bisschen langweilt und Beschäftigung sucht. Wir verstehen und auf Anhieb und reden über alles Mögliche, vor allem über Macher-Weisheiten, die uns unsere Eltern uns mitgegeben haben. “Nur langweiligen Leuten ist langweilig” oder “Ob ist viel anstrengender als wie”. Und wir reden über den Brexit und Schottland (Ich liebe Schottland! -Ich auch!) Und so habe ich beim Aufräumen ne gute Zeit. Es kommt mir vor, als wäre kaum Zeit bis zum Abend, an dem ich in einem anderen Deutschen Hotel einen Vortrag über die Schildkröten halte, über ihr Verhalten, die Konflikte mit dem Tourismus an den Niststränden, darüber wie sie, die Tourist:innen den Schildkröten helfen können oder wie sie uns helfen können den Schildkröten zu helfen. Es fühlt sich gut an jetzt mehr zu wissen, etwas mehr Verantwortung zu haben (wobei ich sagen muss dass ich es auch sehr genossen habe, keine Ahnung und gefühlt wenig Verantwortung zu haben aber nach zwei Wochen hat sich das auserzählt). Am nächsten Tag bin ich sogar selbst Hauptverantwortlich für den Infostand. Ich lasse den Abend mit einer Runde Beachvolleyball am Strand ausklingen, mit Blick auf die untergehende Sonne. Das Spielniveau ist dabei angenehm durchmischt und obwohl schon alle den Überblick behalten, wer jetzt Aufschlag hat, wann rotiert wird und ob der Ball drin oder draußen landet, zählt niemand die Punkte. Mein heimliches Highlight ist allerdings, dass ich aktuell den Snake-Rekord im Camp halte. Anstelle von Mamma Mia 2 wurde über den Beamer ein Snake-Turnier veranstaltet und als eine der wenigen Personen hier, die mit einem Nokia 3310 aufgewachsen ist, hatte ich da natürlich einen Vorteil. Der morgige Tag wird dafür wieder lang und beginnt um 5 Uhr morgens. Ich bin gespannt. Halbzeit.